Hegels Philosophie: nichts für „verlorene Söhne“

In der Sitzung zu Hegels Vorrede und Einleitung zur Phänomenologie des Geistes (hier zit. in der 5. Aufl. Frankfurt 1996) wurde u.a. diskutiert, ob Hegels Neu-Anfang in der Philosophie „elitäre“ oder „egalitäre“ Voraussetzungen für seine potentiellen Mit-Philosophierenden impliziert.

Dazu gibt es nun verschiedene, relativ offensichtliche Stellen, in denen Hegel einen nicht alltäglichen und nicht ohne weiteres jedem zumutbaren Anspruch („ernsthaftes Geschäft“, 62) geltend macht: die Leugnung einer „natürlichen“, keinerlei Ausbildung und Wissen benötigenden Fähigkeit zum Philosophieren (63), die Polemik gegen den „gesunden Menschenverstand“ (64f.), die Ablehnung von quasi-religiöser Offenbarungsevidenz, von „Erbaulichkeit“ und poetischer „Genialität“, die Legitimation von nur durch mehrmaliges Lesen aufzulösender „Unverständlichkeit“ (60), die Verachtung alles „Leichten“, weil formalistisch-schematisch Anwendbarem (49f.) und nicht zuletzt das mehrmalige pathetische Unterstreichen der nicht zu vermeidenden „Anstrengung des Begriffs“ (56) – all dies sind ziemlich deutliche Warnschilder, die Hegel am Eingang seines Werks plaziert, um Unbedarfte abzuschrecken – und besonders „Mutige“ anzulocken.

Einen etwas weniger eindeutigen Hinweis kann man aber auch einer anderen Stelle ablesen, in der Hegel seinen Ansatz philosophiegeschichtlich als Abschluß und Neuanfang „nach der Aufklärung“ verortet. So zumindest würde ich die Passage S. 15f. interpretieren, in der Hegel dem „selbstbewußten Geist“ (dem wissenschaftlichen Selbstverständnis) seiner Zeit bescheinigt, das „substantielle Leben, das er sonst im Elemente des Gedankens führte“ hinter sich gelassen zu haben. Damit wird die allgemeine Idee von „Bildung“ wieder aufgegriffen, die zu „Gedanken der Sache überhaupt“ führt, die mit Gründen und Urteilen rhetorisch geschickt umgehen kann, so daß es für eine sattelfeste „Konversation“ reicht (14). Das ist offenbar das Bildungs- und Wissensideal der enzyklopädischen Aufklärung, die, optimistisch wie sie ist, eine „Unmittelbarkeit des Glaubens“, eine „Befriedigung und Sicherheit der Gewißheit“ an den Tag legt, „welche das Bewußtsein von seiner Versöhnung mit dem Wesen und dessen allgemeiner, der inneren und äußeren Gegenwart“ besitzt (15). Der Aufklärungsphilosoph und -Wissenschaftler fühlt sich auf der Höhe seiner Zeit und in Harmonie mit ihr, er hat sich gut cartesianisch subjekt-identisch abgesichert und lebt ein in sich ruhendes „substanzielles Leben“. All das ist heute acqua passata. Die Aufklärungseuphorie hat eine traumatische Schockeinsicht erleben müssen, in der ihr die Nichtigkeit all dieser vielfältigen Inhalte und ihrer eigenen Position aufgegangen sein muß; aus der weltergreifenden Selbstsicherheit  wurde man zurückgeworfen auf eine „substanzlose Reflexion seiner in sich selbst“ (15): vom Weltbeherrschungspathos ist nur eine solipsistische-nihilistische, „metaphyische Einsamkeit“ (wie man das nennen könnte) geblieben, in der das frühere „wesentliche Leben“ nicht nur „verloren“ ist (ebd.), sondern ein „unglückliches Bewußtsein“ (auch das nicht Hegels Formulierung hier) „sich dieses Verlustes und der Endlichkeit, die sein Inhalt ist, bewußt“ ist (ebd.). Und nun folgt ein Passus, der wenn auch versteckt, Hegels Haltung zu der darausfolgenden Erwartung an die Philosophie preisgibt:

„Von den Trebern sich wegwendend, daß er im argen liegt bekennend und darauf schmähend, verlangt er [der Geist] nun von der Philosophie nicht sowohl das Wissen dessen, was ist, als zur Herstellung jener Substantialität und der Gediegenheit des Seins erst wieder durch sie zu gelangen.“ (15f.)

Es wird hier implizit angespielt auf das Gleichnis vom „Verlorenen Sohn“ aus Lukas 15, wo in der Lutherübersetzung das Ende der fröhlichen Welt-Reise, auf dem der vorlaut-nestflüchtende jüngste Sohn sein Erbteil verprasst hat, dadurch markiert wird, daß er „begehrte seinen Bauch zu füllen mit Trebern, die die Säue aßen; und niemand gab sie ihm“ (Lk 15,16); nicht einmal mehr Schweinefutter (in anderer Übersetzung „Schoten“) wird ihm zuteil, so daß der Gedanke an eine reuige Heimkehr zu seinem reichen Vater an dieser Stelle naheliegt. Es ist bekannt, daß das eine überaus kluge Entscheidung ist, denn dem verschwenderischen Heimkehrer wird nicht nur gnadenreich verziehen, sondern er wird mit einem großen Fest und der Wiedereinsetzung in die vollen Sohnesrechte belohnt – was ja den daheimgebliebenen Bruder begreiflicherweise mächtig irritiert, weil es wieder mal zeigt, daß sich ganz normales pflichtbewußtes Arbeiten im Leben nicht auszahlt… Genau dieser Auffassung scheint aber auch Hegel mit seiner Insistenz auf dem „begrifflichen Arbeiten“ zu sein: denn die Philosophie darf eben nicht die Rolle des (christlichen) liebenden, verzeihenden Vaters spielen, der jenem verlorenen Sohn, der sein gesamtes Aufklärungsweltwissen sinnlos verprasst hat und nun völlig „substanzlos“ dasteht, eine leichte Heimkehr, eine geschenkte Rehabilitation und eine mühelose Wiedereinsetzung in seine alte „Gediegenheit des Seins“ ermöglicht. Hegel ist also kein liebender großzügiger Vater, er belohnt nicht leichtfertig irgendwelche spätpubertären Konversionserlebnisse. Die Philosophie ist weder ein zu bescherendes Gnadengeschenk, noch eine dürftige Samaritergabe in größter Not. Aber sie ist vor allem kein Wissen- und Kompetenzversprechen, das uns Aufklärungsverlierer wieder verlustfrei einsetzen würde in den status quo ante, nur weil wir reuevoll erkannt haben, daß die ganze Aufklärungsbildung ein ins Nichts führender Irrweg war. Die Sinn-Bedürfnisse der nach-aufklärerisch verkaterten Enttäuschungsphase, also der Durst in der „Sandwüste“ (17) und der Hunger am Schweinetrog, sind nicht durch das zu stillen, was jetzt Philosophie genannt zu werden verdient. Statt „Erlösung“ produziert die Philosophie also jene Fremdheits- und Verlusterfahrungen, die S. 30ff. beschrieben werden: sie repräsentiert eine „jenseitige Ferne, worin es [das Bewußtsein] nicht mehr sich selbst besitzt“ (30). Es sind also etwas andere Entfremdungserfahrungen als die des Weltenbummlers am Schweinetrog, die die Philosophie für ihren Adepten bereithält; sie bietet kein warmes Nest für Ex-Playboys und geistige Start-up-Versager, sie bietet statt allesverzeihender Liebe „eine so unvorbereitete als unnötig scheinende Gewalt, die ihm angemutet wird, sich anzutun“ (30), sie ist kein trautes Heim, sondern das „Verkehrte“ und hat die „Form der Unwirklichkeit“ (ebd.).
Und man darf vielleicht an dieser Stelle einen kleinen Nebengedanken verschwenden an Rilkes Re-Interpretation der Geschichte des verlorenen Sohns als die „Legende dessen, der nicht geliebt werden wollte“ und dessen Liebe zu Gott eine „stille, ziellose Arbeit“, eine „harte Arbeit, sich ihm zu nähern“ ist.
Hegels Philosophie ist in diesem Sinne „lieblos“: der Preis dafür, daß sie endlich „ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen“ und „wirkliches Wissen“ (14) sein kann, ist, daß sie selbst keine Liebesgaben mehr offeriert, sondern „harte Arbeit“ wird. Schade eigentlich.

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Über Joachim Landkammer

Joachim Landkammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis der Zeppelin Universität.

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