Hegel zu Sein, Dasein, Wesen, Wirklichkeit. Abteilung 1 Das Sein

Hegel zu Sein, Dasein, Wesen, Wirklichkeit,

  1. Sein

Will man nicht, um mit einem uns bekannten Hegel-Leser zu sprechen, „unter das Urteil aus der Vorrede der Phänomenologie des Geistes [fallen], das über jene ergeht, die nur darum über den Sachen sind, weil sie nicht in den Sachen sind, [die] vorweg den Ernst und das Verpflichtende von Hegels Philosophie [verfehlen], indem sie ihm gegenüber betreiben, was er mit allem Recht geringschätzig Standpunktphilosophie nannte“, die nicht „dem Wahrheitsanspruch seiner Philosophie sich stellen“, sondern „sie bloß von oben und darum von unten her […] bereden“(Adorno, Drei Studien zu Hegel, Gesammelte Schriften Bd. 5, Suhrkamp 1900, S. 251), so muss man, das hat unsere letzte Sitzung wieder einmal eindrücklich gezeigt, der inneren Logik seiner Begriffsgenese und -architektur nachgehen.

Hierbei muss erstens auf die allgemeine Form des Denkens, der Begriffsgenese (Logik) Bezug genommen werden, zweitens auf das Verhältnis von Logik und Geistphilosophie (unter Einklammerung des wichtigen Zweiges „Naturphilosophie“), was unsere Lektüre betrifft, von Logik und Geistphilosophie als Philosophie des objektiven Geistes (Recht, Sittlichkeit, Moral).

Schon in der Vorrede werden einige der ‚wesentlichen’ Begriffe der Rechtsphilosophie beziehungsweise des gesamten Hegelschen Systems erwähnt; diese werden allerdings unter Verweis auf die Enzyklopädie sowie die Wissenschaft der Logik nicht weiter erläutert. „Die Natur des spekulativen Wissens habe ich in meiner Wissenschaft der Logik ausführlich entwickelt; in diesem Grundriß ist darum nur hier und da eine Erläuterung über Fortgang und Methode hinzugefügt worden. Bei der konkreten und in sich so mannigfaltigen Beschaffenheit des Gegenstandes ist es zwar vernachlässigt worden, in allen und jeden Einzelheiten die logische Fortleitung nachzuweisen und herauszuheben; teils konnte dies bei vorausgesetzter Bekanntschaft mit der wissenschaftlichen Methode für überflüssig gehalten werden, teils wird aber es von selbst auffallen, daß das Ganze wie die Ausbildung seiner Glieder auf dem logischen Geiste beruht. Von dieser Seite möchte ich auch vornehmlich, daß diese Abhandlung gefaßt und beurteilt würde“ (GdPdR, S. 4 (Meiner-Ausgabe)).

Ein Nach-Denken der Hegelschen Rechtsphilosophie muss sich also notwendigerweise mit Funktion und Ort der Theorie des objektiven Geistes im Systemaufbau Hegels befassen, da nur im Kontext der und als Genese die Bedeutung der einzelnen Begriffe als Bestimmungsfunktionen einer sich in sich ausdifferenzierenden Operativität sichtbar wird.

Zur allgemeinen Begriffsgenese.

Zunächst möchte ich auf die Begriffe Dasein, Wesen, Wirklichkeit (auf die wir schon in der Vorrede GdPdR gestoßen sind und auf die wir in der Einleitung stoßen werden) eingehen, deren formaler Operationszusammenhang in der Wissenschaft der Logik als der Wissenschaft des reinen Denkens aufgezeigt wird. Um auf den Begriff des Daseins eingehen zu können, müssen zunächst die Begriffe Sein und Werden erläutert werden.

Die Wissenschaft der Logik besteht aus drei Teilen, 1. Lehre vom Sein, 2. Lehre vom Wesen, 3. Lehre vom Begriff und Idee.

Hierbei bezeichnen Sein, Wesen, Begriff und Idee keine der Substanz nach unterschiedenen, partikularen Gegenstände, sondern Aspekte der Begriffsgenese. Sein, Wesen, Begriff und Idee sind somit Titel für operativ gewonnene Funktionsbestimmungen des Denkens.

„Sein“ wählt Hegel als Bezeichnung für einen Gedanken als unmittelbaren, noch nicht als gesetzt in Erscheinung tretenden, noch nicht reflektierten, abstrakten. Er führt zum Sein in der Wissenschaft der Logik aus:

„Seyn, reines Seyn, – ohne alle weitere Bestimmung. In seiner unbestimmten Unmittelbarkeit ist es nur sich selbst gleich, und auch nicht ungleich gegen anderes, hat keine Verschiedenheit innerhalb seiner, noch nach Aussen. Durch irgend eine Bestimmung oder Inhalt, der in ihm unterschieden, oder wodurch es als unterschieden von einem andern gesetzt würde, würde es nicht in seiner Reinheit festgehalten. Es ist die reine Unbestimmtheit und Leere. – Es ist nichts in ihm anzuschauen, wenn von Anschauen hier gesprochen werden kann; oder es ist nur diß reine, leere Anschauen selbst. Es ist eben so wenig etwas in ihm zu denken, oder es ist ebenso nur diß leere Denken. Das Seyn, das unbestimmte Unmittelbare ist in der That Nichts, und nicht mehr noch weniger als Nichts“ (WDL, Lehre vom Sein, Erstes Kapitel, Seyn, S. 68 f.).

Der Gedanke als unbestimmter, man könnte auch sagen, als abstrakte, leere Form, die noch keinen Inhalt gesetzt hat, die noch unterschiedslos ist, sich von nichts unterscheidet und durch nichts unterschieden wird. Will man eine Analogie zu neueren distinktionslogischen Überlegungen, etwa Spencer-Browns, bemühen, könnte man erläuternd hinzufügen: Eine Unterscheidung muss, um als Unterscheidung in Erscheinung treten zu können, unterschieden werden. Als Unterscheidung in Erscheinung zu treten, bedeutet, sich in einen bestimmten Unterschied niederzulegen, einen bestimmten Unterschied zu machen, als Unterscheidung konkret zu werden.

Das Hegelsche reine Sein ist dagegen noch konkretionslos, reine Form. Es ist noch kein bestimmter Unterschied in ihm, der Gedanke (die strukturierende Operativität) hat sich noch nicht konkretisiert.

Eine Verbeispielung dieses Gedankens des unbestimmten Bestimmens, der leeren Form, findet sich in der Phänomenologie des Geistes als Anfangsmoment der sinnlichen Gewissheit, der Einsatzstufe dessen, das Hegel „Bewusstsein“ nennt.

A Bewusstsein I Die sinnliche Gewissheit oder das Diese und das Meinen

„Das Wissen, welches zuerst oder unmittelbar unser Gegenstand ist, kann kein anderes sein als dasjenige, welches selbst unmittelbares Wissen, Wissen des Unmittelbaren oder Seienden ist. […] Diese Gewißheit aber gibt in der Tat sich selbst für die abstrakteste und ärmste Wahrheit aus. Sie sagt von dem, was sie weiß, nur dies aus: es ist; und ihre Wahrheit enthält allein das Sein der Sache“ (PdG, S. 82, Suhrkamp-Ausgabe).

Hegel erläutert nun, wie das „dieses da“ der sinnlichen Gewissheit, diese rudimentäre Form des auf etwas Verweisens, des Gegenstandsbezugs des Denkens, notwendigerweise aus sich selbst heraus Struktur gewinnen muss, sich in konkretere Formen des Gegenstandsbezugs ausdifferenzieren muss, will es das konkrete, den Gegenstand, erfassen. Das „dieses da“ erweist sich, anders formuliert, als bloß vorübergehende, reine Momentaufnahme des Gegenstandes. In ihm ist noch nichts Bestimmtes gesetzt, es wird lediglich der Gegenstandsbezug des Bewusstseins überhaupt artikuliert.

Hegel führt hierzu mehrere alltagsplausible Beispiele an:

„Das Hier (eine Variante des „dieses da“ (C.W.)) ist z.B. der Baum. Ich wende mich um, so ist diese Wahrheit verschwunden und hat sich in die entgegengesetzte verkehrt: Das Hier ist nicht ein Baum, sondern vielmehr ein Haus“ (85).

Hieraus lässt sich nachvollziehen, was Hegel in seiner Logik als Werden, Einheit von Sein und Nichts, ausführt:

 

  1. Werden 1. Einheit des Seyns und Nichts

„Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe. was die Wahrheit ist, ist weder das Seyn, noch das Nichts, sondern daß das Seyn in Nichts, und das Nichts in Seyn, – nicht übergeht, – sondern übergegangen ist. Aber eben so sehr ist die Wahrheit nicht ihre Ununterschiedenheit, sondern dass sie nicht dasselbe, dass sie absolut unterschieden, aber eben so ungetrennt und untrennbar sind, und unmittelbar jedes in seinem Gegentheil verschwindet. Ihre Wahrheit ist also diese Bewegung des unmittelbaren Verschwindens des einen in dem andern; das Werden; eine Bewegung, worin beyde unterschieden sind, aber durch einen Unterschied, der sich ebenso unmittelbar aufgelöst hat“ (WdL, Lehre vom Sein, S. 69 f., Meiner-Ausgabe).

Werden ist noch bestimmunglose Einheit von Sein und Nichts, das permanente Entstehen und Vergehen eines rein außer sich seienden Denkens, das kontinuierlich in anderes Übergehen des „dieses da“: Dieses ist jetzt Haus, jetzt schon wieder Kuh, jetzt Schwein, Himmel, Bodensee etc. …

Den Schritt vom bloßen Entstehen und Vergehen als erster Bewusstseinseinsatz hin zu einer einfachen, ersten Bestimmtheit, geht Hegel nun folgendermaßen:

  1. 3 Aufhebung des Werdens

„[…] Diß könnte aus so ausgedrückt werden: Das Werden ist das Verschwinden von Seyn in Nichts, und von Nichts in Seyn, und das Verschwinden von Seyn und Nichts überhaupt; aber es beruht zugleich auf dem Unterschiede derselben. Es widerspricht sich also in sich selbst, weil es solches in sich vereint, das sich entgegengesetzt ist; eine solche Vereinigung aber zerstört sich“ (93 f.).

Mit anderen Worten: Der unterschiedslose Unterschied ist keiner, der Unterschied braucht, um zu sein, was er ist, eine weitere Unterscheidung, ein in den Unterschied bringen seiner selbst. Hegel formuliert das folgendermaßen:

„Diß Resultat ist das Verschwundenseyn, aber nicht als Nichts; so wäre es nur ein Rückfall in die eine der schon aufgehobenen Bestimmungen; nicht Resultat des Nichts und des Seyns. Es ist die zur ruhigen Einfachheit gewordene Einheit des Seyns und Nichts. Die ruhige Einfachheit aber ist Seyn, jedoch ebenso, nicht mehr für sich, sondern als Bestimmung des Ganzen. Das Werden sit so übergehen in die Einheit des Seyns und Nichts, welche als seyend ist, oder die Gestalt der einseitigen unmittelbaren Einheit dieser Momente hat, ist das Daseyn“ (94).

Das Daseyn als unterschiedene Unterscheidung, als Bestimmung, Konkretisierung des allgemeinen, leeren Unterscheidens in einen bestimmten Unterschied hinein.

 

Fortsetzung folgt…

 

 

 

 

 

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Über Joachim Landkammer

Joachim Landkammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis der Zeppelin Universität.

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