Der Mythos von Schuld und Selbstverursachung

von Joachim Landkammer

Der Amoklauf von München läßt über die psychologischen Hintergründe solcher Taten spekulieren – auch wenn die sich zu Wort meldenden „Experten“ natürlich beanspruchen, jetzt nach dem Bekanntwerden einiger biographischer Kenntnisse zum Täter mehr als nur Spekulationen (von denen es ja vorher voreilig viele gegeben hatte) zu bieten zu haben. Mit „Depressionen“, an denen laut Peter Langman (dessen Buch Amok im Kopf beim 18-jährigen Täter gefunden wurde) 9 von 10 Amokläufern leiden, würden sich keine Gewalthandlungen gegen andere ausführen lassen, meint  etwa Ulrich Hegerl, Leiter der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Leipzig und Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Depressive leiden hingegen an übertriebenen Schuldgefühlen, wird er in der FAZ zitiert: „Sie geben immer sich selbst die Schuld, nicht anderen und würden deshalb nie auf den Gedanken kommen, fremde Menschen in einem Amoklauf zu töten.“

Man kann aber fragen, ob das, was für die Öffentlichkeit das tragische „Ergebnis“ solcher Taten ist – die toten Opfer – wirklich das ist, was der Täter eigentlich „beabsichtigt“ und „will“. So sehr die öffentliche Trauerarbeit die Einzelpersonen, ihre Gesichter und ihr persönliches Schicksal in den Blick nehmen muß, so ernst wird man die Tatsache zu nehmen haben, daß sie aus radikalem Zufall, völliger Willkür und grausamster Indifferenz zu Opfern geworden sind. Sie sind, so schlimm das ist, „austauschbar“ – sie waren „nur“, wie man dann immer euphemistisch sagt, zur falschen Zeit am falschen Ort – sie sind, heißt das ja nur, nicht der Grund und nicht die Ursache für das, was ihnen geschehen ist. Sie sind „nicht schuld“- und eben deswegen paßt durchaus die Diagnose „Depression“ auf ihren Mörder, der eben „sich selbst die Schuld geben“ will, wie Hegerl sagt. Denn hinter dieser Formulierung versteckt sich ein Aggressivitäts-Potential, das durchaus nicht nur passive und introvertierte Handlungsmuster ermöglicht. Sich-selbst-die-Schuld geben, das bedeutet auch: selbst Ursache sein zu wollen, selbst etwas veranlassen und veranlaßt haben wollen, sich selbst bestimmte (möglichst große!) Wirkungen zuschreiben zu wollen.

Daß dieses Gefühl des Etwas-Bewirken-Könnens eine Faszination auch für den „gesunden“ Menschen ausübt, ist leicht verständlich in einer Welt, in der man sonst immer nur eher Rädchen im Getriebe ist, eher Veranlaßter als Veranlasser, eher Getriebener als Treibender, eher End- als Ausgangspunkt langer Befehls- und Regelketten. Anders als es die normale Verwendungsweise suggeriert, hat die Aussage „ich bin doch nicht schuld daran“ meist nicht eine exkulpierende, entlastende Funktion, sondern artikuliert ein latentes Eingeständnis von Ohnmacht und Sinnlosigkeit der eigenen Existenz. Endlich mal wirklich an etwas „schuld sein“: davon träumen heute sehr viele Zeitgenossen, die gerne etwas stolzer und selbstbewußter wären.

Daher ist die Überlebensfrage nicht nur der klinisch depressiven Mitglieder unserer heutigen (weithin so diagnostizierten) „depressiven Gesellschaft“ (vgl. Ehrenberg u.a.), wie man mit möglichst geringem Aufwand möglichst große Wirkungen hervorruft; wie man sein kleines privates Ich auf möglichst große öffentliche Dimensionen aufbläht, wie man auch mit Null-Talent und Null-Kompetenz zur weltweiten Prominenz wird – und sei es als Versager, als „epic fail“, eben: als suizidaler Attentäter. Und der Freitagabend in München hat sich wiedermal als großartige Demonstration in dieser Sache erwiesen – und deswegen ist er so gefährlich: weil zu vermuten ist, daß es genügend psychisch ähnlich Disponierte gibt, die er zur Nachahmung anstiftet. Denn daß es genügt, daß ein sonst völlig nichtsnutziger Heranwachsender sich eine kleine Pistole (nicht einmal eine „Langwaffe“!) besorgt und sie auf Passanten abdrückt, um plötzlich die ganze Welt den Atem anhalten zu lassen, das kann nicht anders als faszinieren. Eine ganze Armee an schwerbewaffneten Sicherheitskräfte mobilisiert, eine ganze Weltstadt für Stunden lahmgelegt, ein ganzes Freitagsabend-Fernsehprogramm umgeworfen, die sozialen und die richtigen Medien weltweit in tagelangen Aufruhr versetzt, eine Bundeskabinettssitzung und vielfältigste Politikerstatements, Feuilleton-Kommentare und bestimmt noch viele weitere Amoklauf-Bücher provoziert  zu haben: wer von uns nichtsnutzigen Anderen kann das schon von sich behaupten und wird das je im Leben schaffen?  Einmal den Lauf  der Welt anhalten können, dem Rad der Geschichte in die Speichen greifen, dem „ehernen Gehäuse der Hörigkeit“ (Weber) entrinnen und das sich ewig drehende „Rad des Ixion“ (Schopenhauer) stillstehen zu lassen: das ist doch die schwer zu heilende Fundamental-Megalomanie des kleinen Mannes, die sich nur mühsam hinter unseren kleinkarierten Spießerattitüden und provinziellen Schrebergärtnerglücksutopien versteckt.  Denn daß die Welt, wie am Freitagabend in allen Medien zu besichtigen war, sich durch Sondermeldungen plötzlich selbst unterbricht, sich selbst irritiert, einfachste Live-Schaltungen und routinierteste Senderegie-Abläufe nicht mehr hinbekommt, also ins Stolpern gerät, ins Stammeln, ins hilfloses Improvisieren und vor allem in nervigstes Sich-Selbst-Wiederholen, in sinnloseste Redundanz der ewig gleichen Nullinformations-Dauerschleifen: das ist ein Moment, darf und muß man befürchten, auf den wir insgeheim warten und hoffen. Daß alles einfach „so weitergeht, das ist  die Katastrophe“ – die Benjaminsche Eschatologie ist heute heruntergekommen auf die Endzeit-Manie des dauerdepressiven Durchschnittsbürgers (Hollywood kennt und bedient sie ja schon länger) und verursacht immer wieder nichts anderes als noch viel schlimmere Katastrophen. (Und daß der Suizid, die Selbstauslöschung als ultimative „Selbstbewirkung“, als radikal negative Selbstaffirmation eines Privat-Eschatologen, zu diesem Selbstverschuldungswahn paßt, leuchtet auch ein).

Vielleicht sind wir in Wahrheit gar nicht depressiv, sondern vielmehr nicht depressiv genug. Vielleicht würde nur die radikale Einsicht „ich bin nichts und kann auch nie etwas werden (schon gar nicht der Mittelpunkt einer sich plötzlich für ein paar Stunden nur um mich drehenden Welt)“ uns dazu anstiften, den relativ besten Beitrag zu unserer Gegenwart leisten, den wir leisten können: sie in Ruhe zu lassen.

 

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Über Joachim Landkammer

Joachim Landkammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis der Zeppelin Universität.

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