Die Über-zeugten über-stimmen: Schuld und Chance der Nicht-Wähler

Von Joachim Landkammer

„Wenn das Europa ist“, sagen die Anti-Europäer und deuten mit dem Finger auf bestimmte Brüssler Fragwürdigkeiten, „dann wollen wir keine Europäer mehr sein“. Well, gegen ausgestreckte Finger läßt sich schlecht argumentieren. Man könnte stattdessen aber selber den Finger ausstrecken. „Wenn das Demokratie ist“, sagen wir also und deuten auf bestimmte Folgen englischer Volks-Referenden sowie auf bestimmte Parteien in bestimmten bundesdeutschen Landtagen, „dann wollen wir keine Demokraten mehr sein“.

Wäre das eine angemessene, eine akzeptable Reaktion? Hilft gegen Rechts-Populismus nur, der vox populi die Wähler-Stimme zu entziehen? Soweit wird kaum jemand gehen wollen, auch wenn das Vertrauen in die Politik- und Mitsprachekompetenz der wahlberechtigten Bevölkerung nach der Aufbruchs-Euphorie des „Mehr-Demokratie-Wagnisses“ der 60er Jahre mittlerweile ziemlich aufgebraucht sein dürfte. Aber eine Erinnerung an die Grenzen der Leistungsfähigkeit der Demokratie wäre vielleicht schon an der Tagesordnung.

Wir werden ja zur Zeit offenbar mit einem Ereignis konfrontiert, das sich mit diesem Satz beschreiben ließe: „Ganz Britannien tritt bald aus der EU aus, weil ganz Britannien das so will“. Das wäre zumindest eine vernünftige, eine vertretbare und verständliche Aussage, die uns mit der Erstaunlichkeit des Ereignisses versöhnen könnte. Nun ist offensichtlich, daß die behauptete „Ganzheit“ im begründenden Weil-Nebensatz keine ist, sondern eben Resultat einer demokratisch legitimierten Komplexitätsreduktion. Um sie zu verstehen, darf man sie kurz rückgängig machen, und konkret fragen, wer und wieviele da wirklich den Austritt wollen.

Es sind in absoluten Zahlen 1,3 Millionen TeilnehmerInnen am Referendum gewesen, die für „leave“ gestimmt, dadurch um diese Anzahl die 16 Millionen „In“-Befürworter überstimmt und jenen Unterschied gemacht haben, der nun die im obigen Hauptsatz beschriebene Folge herbeiführt („Ganz Britannien…“). Es sind, bei insgesamt 46,5 Millionen Wahlberechtigten, also 2,8 % der Briten, die diese Entscheidung nun „auf demokratische Weise“ erzwingen. Zum Vergleich: München hat 1,4 Millionen Einwohner. Und auch noch diese Zahlen: es hätte genügt, daß von den 13 Millionen Nicht-Wählern nur 10 % für Europa stimmten, und die Entscheidung wäre anders ausgefallen.

Zu den Nicht-Wählern später; vorher noch kurz diese Frage: warum macht man Entscheidungen solcher Tragweite eigentlich von dem basisdemokratischen Fetisch der 50%-Plus-Klausel abhängig? Warum soll eine hauchdünne Mehrheit genügen, um den Kurs eines ganzen Landes radikal ändern zu dürfen? Der große Demokratie-Theoretiker Robert A. Dahl hat schon vor 60 Jahren geschrieben, das Festhalten am – der „populistic democracy“ zugerechneten – Mehrheitsprinzip „in such an extreme case where the group is large and the difference very slight might strike one at worst as doctrinaire absurdity and at best as a mere matter of convenience“. Der Brexit ist also entweder eine Absurdität oder eine bloße Verlegenheitslösung. Was spricht aber dagegen, bestimmte grundsätzliche Normen, Ideale, Richtungen, Überzeugungen durch die Forderung qualifizierter, ganz deutlicher Mehrheiten vor leichtfertiger Änderung zu schützen, so wie Verfassungsänderungen durch Zwei-Drittel-Mehrheiten? Und am besten gleich durch „absolute“ Zwei-Drittel-Mehrheiten, also solche mit einem Quorum, das auf die Gesamtzahl nicht der tatsächlich Wählenden, sondern der potentiellen Gesamtwählerschaft berechnet ist.

Und damit sind wir wieder bei den Nicht-Wählern. Denn auch das scheint eine wichtige Erkenntnis der Brexit-Abstimmung zu sein. Auch wenn aktuell die angeblich „hohe Wahlbeteiligung“ (72 %) gelobt wird: die eigentlichen Verlierer demokratischer Wahlen sind hier wie auch sonst immer die Nicht-Wähler, genauer diejenigen unter ihnen, die darauf vertrauen, daß sich die „Stimme der Vernunft“ auch ohne sie durchsetzen wird, diejenigen, die glauben, daß ihre Stimme sowieso nichts ändern wird, die, die ihre Gegner unterschätzen. Es herrscht unter Wahlforschern die einhellige Meinung, daß Wahlabstinenz immer den radikalen Parteien und extremen Strömungen zugute kommt, also denen, die bei höherer Wahlbeteiligung leicht kontrollierbare Minderheiten repräsentieren würden. Man wird mit ziemlicher Plausibilität sagen können, daß diese Parteien geradezu darauf spekulieren, daß möglichst viele potentielle WählerInnen am Wahltag zu Hause bleiben: denn nur dann können sie mit dem einzigen (nicht nur englischen) Pfund wuchern, daß sie selbst in die politische Wagschale zu werfen haben: Mobilisation, Engagement, Empörung, Protest, Propaganda. Schon Lenin wußte, daß eine kleine schlagkräftige Truppe spielend die träge Masse beherrschen kann. Die demokratische Prozedur spielt den 100%-Überzeugten statt den Schlagstöcken nur eine andere Waffe in die Hände: der angekreuzte Stimmzettel siegt über den unberührten, der nach Schließung der Wahllokale geschreddert wird.

Es wird nun viel darüber debattiert, ob und wie und daß mit den neu gewählten populistischen, nationalistischen und ausländerfeindlichen politischen Akteuren „geredet“ werden muß; man meint mehrheitlich, sie müssten irgendwie „integriert“ und „ernst genommen werden“ usw. Man mag das versuchen, und auch versuchen, angesichts der damit verbundenen Zugeständnisse und Niveauverluste eine Person zu bleiben, die sich danach noch ohne Scham im Spiegel ansehen kann. Sinnvoller und gesünder könnte es sein, diesen vermutlich nicht schadlos zu führenden „Dialog“ zu verweigern und sich stattdessen den Unentschiedenen, den tatlos-ratlos daneben Stehenden, den politsch angeblich „Uninteressierten“ zuzuwenden und sie schlicht zu fragen, ob sie, wenn sie schon nicht wissen, was sie wollen, zumindest wissen, ob sie das wollen können: daß diese Leute, solche Leute über das Geschick des Landes und der Gesellschaft entscheiden, nur weil sie sich eben – im Gegensatz zu dir, zu dir und zu dir – zum Wahllokal aufmachen. Es könnte eine gute Idee sein, „diese Leute“ noch in der und durch die Wahlurne zu stoppen, bevor es vielleicht auch dafür zu spät ist.

Wahlbeteiligungen von mehr als 90% gelten heute als totalitäre Farce. Aber warum eigentlich? Es könnte sein, daß solche Beteiligungsausmaße bald nötig werden, um so etwas wie Totalitarismus zu verhindern. Denn das, was für totalitäre Regimes, mangels Alternativen zur „Einheitspartei“, ja nur billige Fiktion bleiben mußte, nämlich der Wille des „gesamten Volkes“, könnte heute, angesichts marodierender Neo-Populisten vom gesellschaftlichen Rand, wieder eine politisch überlebenswichtige Ressource werden: die Berufung auf eine möglichst vollzählig präsente Wahl-Bürgerschaft, die allein durch ihre zahlenmäßige Überlegenheit deren realpolitische Leichtgewichtigkeit klarmacht. Nur so, nur bei voller Beteiligung könnte eine Leistung der Wahl- und Volksdemokratie wieder zur Geltung kommen, die heute oft vergessen wird: daß sie dafür sorgen kann, daß am Ende nicht der das Sagen hat, der vorher am lautesten geschrien hat.

Und zum Schluß noch ein Zahlenspiel: wenn am 5. März 1933, der letzten „freien“ Wahl vor der NS-Zeit, von den immerhin 5 Millionen Nichtwählern (trotz sehr hoher Wahlbeteiligung von 88,7 %!) nur eine kleine Mehrheit von 3 Millionen nicht NSDAP oder deren Verbündete („Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“) gewählt hätten, hätte es keine absolute Mehrheit für den deutschen Faschismus gegeben. 3 Millionen Menschen hätten vermutlich verhindern können, daß das Zwanzigfache davon in den nächsten Jahren stirbt.

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Über Joachim Landkammer

Joachim Landkammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis der Zeppelin Universität.

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