Nein, Herr Feldwebel Montaigne! Gegen einen bestimmten philosophisch-soldatesken Ton im Umgang mit dem Tod

Die gestrige Sitzung des Spiritus-Kreises zu Montaignes Essay „Philosophieren heißt sterben lernen“ (I.20) hat zu einer teilweise hitzigen Debatte geführt, in der ich eigentlich Folgendes sagen wollte:

Montaigne hat Recht. Man kann versuchen, das Verhältnis von Leben und Tod so zu denken, wie er es vorführt, man kann versuchen, so mit der Todesangst umzugehen und sie so zu beruhigen, zu besänftigen, zu „therapieren“. Das hat seine lebenspraktischen „Vorteile“, auf die er ja nicht müde wird, hinzuweisen: Gelassenheit, Selbstsicherheit, „Freiheit“ (was dann „Nicht-Erpressbarkeit“ genannt wurde). Aber man kann, man muß sich auch fragen, um welchen Preis diese schönen Früchte philosophischer Denkungsart erkauft sind: eine ungeheuerlich abstrakte Distanz vom Leben, von den Leiden und Nöten der Anderen, von allem, was uns als endliche, um ihren Tod „wissende“ Menschen ausmacht. Der Preis für die abgeklärte abstrakt-analytische Haltung „des Philosophen“ ist, hier wie öfters, eine emotionslose, dem Stumpfsinn nahekommende Nivellierung alles Differenten: „Und wenn ihr einen Tag gelebt habt, habt ihr alles gesehn“. Erfahrung, Erlebnis, Begegnung, Reifung, Erneuerung, Dazu-Lernen, Wachsen: all das soll „nichts“ sein, weil ja sowieso jeder Tag gleich sei wie jeder andere. Der so souverän die Todesangst besiegende Philosoph entpuppt sich als bornierter Konservativer, dessen Wahlspruch ja bekanntlich auch ist: „kennst du einen, kennst du alle“. Es soll egal sein („Pour ce qu’il est indifferent“, wird Thales zitiert), ob man noch oder nicht mehr lebt, ob man drei Jahre oder dreiundachtzig gelebt hat, weil am Ende ja auf jeden Fall der große „demokratische“ Gleichmacher kommt (das ist eben die französische „egal“-ité), der wie die hier ja auch oft beschworene „Natur“ uns alle zurechtstutzt auf das für alle gleiche Nichts, auf das uns hier der Philosoph gleich nochmal ex cattedra zurechtstutzen will. Er reduziert uns aber so nicht nur auf unsere animalische-biologische Natur, sondern er macht sich nolens volens auch noch zum Komplizen des Feldwebels, der seine vor Angst schlotternden Soldaten, bevor er sie in den Kugelhagel schickt, anschnauzt: „Hunde, wollt ihr ewig leben?“. Daß dem Caesar-Fan Montaigne diese martialische Todesverachtung nicht fremd ist, zeigt auch die zustimmend zitierte zynische Replik, die Caesar dem um sein Leben bettelnden Soldaten gibt: was er denn bloß wolle, er sei doch sowieso schon tot.

Vor diesem Hintergrund nimmt Montaignes Ausdeutung des alten Topos „nascentes morimur“ (Manilius) eine bittere, menschenverachtende Note an. Wenn Tod und Leben in furchttherapierender Absicht so miteinander identifiziert werden, daß sie koinzidieren, dann wird menschliche Mortalität bagatellisiert, verharmlost und schöngeredet. Montaigne begibt sich, ganz ohne Religion und ganz ohne Not, auf die leergewordene Predigt-Kanzel und zieht dem Tod den Stachel. Es ist aber nicht einzusehen, warum man sich vom Philosophen einen billigen Trost gefallen lassen sollte, den man sich vom Pfaffen verbieten würde.

Man kann das so machen – wie gesagt. Aber man kann sich auch überlegen, ob es nicht eine (philosophische) Alternative gibt, die unter Verzicht auf jede „weise“ Pseudo-Gelassenheit und jede religiös-philosophische, „logisch-analytische“ Tröstung darauf bestehen würde, daß der Tod eine sinnlose Grausamkeit darstellt, einen furchterregenden Einschnitt in das Leben, das das einzige ist, das wir haben, ein nicht genug beklagens-, verdammens- und verfluchenswertes Hindernis, das es potentiell darauf anlegt, fast alle unsere Absichten, Pläne, Vorhaben, Träume zunichte zu machen. Das ist freilich ein viel weniger komfortabler, viel trostloserer Gedanke als der, den Montaigne zu plausibilisieren versucht – aber er ist ehrlicher. Er artikuliert das Einzige, was wir dem Tod, dem schrecklichen Alles-Bezwinger und Alles-Kaputtmacher, in unserer miserablen Endlichkeit entgegenzustellen haben: die Würde der Nicht-Akzeptanz, den trotzigen Anspruch des Aufbegehrens auch gegen das Unvermeidliche, die „Freiheit“ des Sich-Nicht-und-Nie-Zufrieden-Gebens. Ja, Herr Feldwebel, natürlich! Wir wollen (eigentlich) ewig leben.

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Über Joachim Landkammer

Joachim Landkammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis der Zeppelin Universität.

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