Die Zeitung von gestern (5)

Nachgereichte Legitimation der Gleichzeitigkeit
Von Joachim Landkammer (11.07.2017)

„Nach Hamburg“: mit deutscher Gründlichkeit beginnen am day after unverzüglich die Aufräumarbeiten, auf den Straßen wie im Blätterwald. Die einen kehren beflissen mit Schäufelchen und Besen noch den kleinsten Krümel vom Pflaster des verwüsteten Schanzenviertels (und man wird den Verdacht nicht los, daß das eifrige freiwillige Helfervolk damit nachholend Sühne leistet für jenen versäumten Widerstand gegen die Chaoten, den es, gewaltfasziniert gaffend, am Tag davor hat fehlen lassen). Die anderen räumen auf andere Weise auf – und ab: für sie ist nun die Stunde der großen Bilanzierung, der Nutzen-Kosten-Abschätzung, der Gewinn-Verlust-Rechnung und der Suche nach dem möglichen Positiven gekommen, das sich dem vielfältig medial bebilderten Nicht-ganz-so-Positiven entgegenstellen ließe; Zeit also für Erklärungen und Deutungen, und damit auch für Rechtfertigung, Verklärung und Verharmlosung. Besonders auf der linken Seite des politischen Spektrums ist dieser schönredende Legitimationsdruck zu spüren, muß doch das Desaster der Hamburger Gewalteskalation recht eindeutig mit den erklärten Strategien und Haltungen heutiger linksextremer „Politik“ (wenn man das denn so nennen will) in Zusammenhang gesehen werden.

Die einfachere Variante, die der „öffentlichen Distanzierung“, empfiehlt sich, obwohl vielfach für sie optiert wird, aus mehreren Gründen eigentlich nicht (wie man in der „Roten Flora“ ja sofort erkannt hat). Denn damit würde man sich von einem möglichen Aktions- und Drohpotential, einem so verschwiegen-verdeckten wie effizienten Verbündeten lossagen, den man bei nächster Gelegenheit gut wieder auf der eigenen Seite gebrauchen kann – und den man vor allem partout nicht als Gegner haben will. Nichts fürchtet man nämlich auf der linken Seite mehr als einen Zweifrontenkrieg, in dem man zwischen „Rechts“ (also bürgerlicher Mitte) und „Ganz-Links“ zerrieben wird. Die Rede von den „Linksfaschisten“, die die peinliche allzu-linke Verwandtschaft geschickt in die rechte Ecke stellen will, würde ebenfalls zur sich daraus ergebenden Taktik der klaren Einheitsfrontlinie passen, ist aber ihrerseits natürlich problematisch, weil sie ja implizit das als alleinige Alternative übrig läßt, was die Linke ebenso, wenn nicht noch mehr perhorresziert: die nicht-extremistische Mitte. Man braucht also – und dafür nimmt man unbequeme Erklärungsnöte in Kauf – die linksautonome Szene, und sei es als Stachel im Fleisch der eigenen Trägheit, als Remedium gegen das eigene schlechte Gewissen aufgrund mangelnder „Radikalität“ und „Durchsetzungskraft“. Eine nicht ganz von der Hand zu weisende Vermutung wäre doch: jede(r), die/der da fröhlich singend im „bunten Block“ mitmarschiert und das lustige Anti-Trump-Plakat hochhält, schämt sich insgeheim über die doch, global gesehen, eher lächerliche Vergeblichkeit des eigenen Tuns und kann sich daher der altbekannten „klammheimlichen Freude“ nicht erwehren, wenn dann abends der schwarze Block wirklich „antikapitalistisch“ zur Sache geht, wenn von den Banken, die man abstrakt für alles Böse der Welt verantwortlich hält, endlich ganz konkret nur zertrümmerte Fensterscheiben und zerstörte Geldautomaten übrigbleiben. Die schwarzen Alliiertentruppen steuern zum „Protest“ gern den Hardcore-Aktivismus bei, zu dem den braven Bunten der Mut fehlt (er reicht bei ihnen nur zu markigen Sprüchen: „Welcome to Hell“); zum Dank dafür dürfen die Chaoten gleich nach ihren Ausschreitungen wieder schöne bunte Mäntelchen über die schwarze Kluft werfen und in der Protest-Light-Menge ihrer halbherzigen Gesinnungsbrüder und -schwestern untertauchen.

Wie? Eine bösartige Unterstellung? Eine perfide Denunziation der ganzen „friedlichen“ Protestkultur? Vielleicht, aber warum fällt dann den Linken die Distanzierung so schwer? Und zwar nicht nur die verbale, die offizielle, post festum propagierte: vereinzelt hatten die Medien am frühen Samstagabend noch gemeldet, daß Umstehende versucht hätten, Tätlichkeiten schwarz Vermummter zu verhindern oder zumindest offen zu kritisieren. Damit war dann aber wohl bald Schluß und man beschränkte sich aufs Zuschauen und Handyzücken (womit sich das Phänomen bestätigt, daß Gewaltausübung immer die Resultante von Aktion der einen und Nicht-Aktion der anderen, der tatenlos-komplizenhaften bystander, ist: damals in Hoyerswerda wie jetzt im Schanzenviertel).

Martin Kaul bietet daher, wenig überraschend, in der taz von gestern (9.7.) statt einer klaren Distanznahme einen „Deutungsvorschlag“ an. „Man kann die Ausschreitungen von Hamburg verurteilen – natürlich“, heißt es da von oben herab. Aber das billige Verurteilen überläßt man lieber dem kleinlichen Spießer, man selbst zielt auf Höheres: „Man sollte sie aber auch verstehen“. Daß, wer sie „verstanden“ hat, sie auch nicht mehr „verurteilen“ kann (man spielt wieder einmal mit der Verwechselbarkeit von comprendre und pardonner), wird in Kauf genommen, es gilt ja offenbar auch als Distinktionsmerkmal.  Worin besteht nun aber Kauls Deutungsvorschlag? Statt einer theoretischen Argumentation werden hier „Augen öffnende“ Momente, Bilder, Evidenzerfahrungen geboten. Durch die Gleichzeitigkeit der Fernsehbilder aus der Elbphilharmonie und der marodierenden Gipfelgegner, der TV-Screenshots, die schon in den sozialen Medien viele fasziniert haben, soll genau jenes „Bild einer Gegensätzlichkeit“ produziert worden sein, „auf das die militante Szene Europas seit Monaten hingearbeitet hat“. Das wird von Kaul als „Erfolg“ gefeiert, als „Erfolg, die Wahrnehmung zu erzeugen, daß die Welt aus den Fugen ist“.

Zunächst muß ja verwundern, daß man sich bzw. der „militanten Szene“ als „Erfolg“ zuschreibt, was ja nicht mehr ist als ein relativ banaler regietechnischer Einfall der bürgerlichen Kommunikationsmedien: das Nebeneinanderstellen von Bildern, die nichts gemeinsam haben als die (im übrigen ja nur behauptete, kaum nachprüfbare) Synchronizität. Aber anstatt daraus nun den triftigen Schluß zu ziehen, der zum kleinen Einmal-Eins der Medienkompetenz gehört – daß Realität eben komplex, vielschichtig und uneindeutig ist, und daher aus verschiedenen möglichen, manchmal eben auch gleichzeitigen Perspektiven beobachtet werden muß – wird aus diesen Parallelbildern eine in sich völlig eindeutige unmittelbare „Gegensätzlichkeit“ konstruiert, ein glasklarer „Antagonismus“,  aus dem sich u.a. der binäre „Kontrast zwischen Arm und Reich“ ebenso ergeben soll wie auch der Widerspruch zwischen Beethoven/Schillers  Verbrüderungshymne (die Angela Merkel ihren Gästen als „Erziehungsmaßnahme“ verordnet haben soll) und dem „Sound“ jenes radikal-antikapitalistischen Pamphlets vom „kommenden Aufstand“, auf den nach Kaul die Verwüstung in den Straßen bezogen werden muß. Daß solch verschwurbelte Dialektik, die aus reiner, man würde ja sagen: zunächst vollkommen kontingenter, Gleichzeitigkeit schon ein Argument machen zu können glaubt, einer ziemlich durchschaubar sensationalistischen massenmedialen Bilderlogik unkritisch aufsitzt, ist nur das eine Problem. Das andere ist das Armutszeugnis einer linken Theorie, die sich nicht nur selbst durch solche dem leichtgläubigen TV-Konsum abgewonnene Erleuchtungs-„Momente“ legitimiert fühlt, sondern mit diesen merkwürdigen Erkenntnis-Epiphanien auch gewaltbetrunkenen Marodeuren einen politischen Persilschein ausstellt. Denn die nicht ausgesprochene, aber vermutbar intendierte Aussage soll ja offenbar sein: wenn die einen sich so weltfremd-zweckfrei verhalten dürfen, im Konzertsaal biederste Klassik zu hören, werden doch wohl die andern sich gleichzeitig vergleichbar weltfremd-zweckfrei verhalten dürfen, indem sie sinnlose Gewalt gegen Personen und Sachen zu verüben…

„Post hoc ergo propter hoc“ lautet ein beliebter Fehlschluß, den man im Logik-Proseminar vermeiden lernt: was später als etwas anderes geschieht, ist deswegen noch lange nicht vom Vorausgehenden verursacht. Das Logik-Versagen des linken Gewalt-Legitimations-„Deutungsvorschlags“ rechnet mit einem anderen Temporalitätsverhältnis, das aber genauso falsche Schlußfolgerungen liefert: warum sollte ein Geschehen etwas mit einem anderen zu tun haben, nur weil es gleichzeitig passiert? Daraus, daß die einen eine Beethoven-Symphonie hören, während die anderen Steine auf Polizisten werfen, ergibt sich genau besehen ungefähr soviel sachlich verwertbare Brisanz wie aus der Erkenntnis, daß es in der Parterre-Wohnung Wurstbrot, im 1. Stock hingegen gerade Käsebrot zum Abendessen gibt. Freilich ist die verführerische Scheinplausibilität der Ereignis-Simultaneität ein allseits beliebtes rhetorisches Mittel. Wer etwa sehen will, wie virtuos man dieses jetzt auch von der taz beschworene Pathos der Gleichzeitigkeit ideologisch mißbrauchen kann, darf sich mal – wenn man es denn durchhält – die Rede anhören, die der ultrarechte Vordenker Götz Kubitschek beim „Festkommers der Deutschen Burschenschaft 2015 in Eisenach gehalten hat; auch dort werden beliebig herausgegriffene Realitätsfragmente, die angeblich alle „jetzt in dieser Stunde, in der wir hier zusammen sitzen“ passieren, so miteinander verknüpft und mit übergreifendem Sinn überladen, daß sich aus dieser puren Gegenwarts-Transzendenz eine eindeutige politische Botschaft ergibt. Und sei es nur die des an- und Taten ein-klagenden Appells, in den heute ja Rechte wie Linke gern unisono einstimmen: daß „die Welt aus den Fugen“ sei – was ja angesichts der angeblich so wunderbar stimmig zueinanderpassenden Splitscreen-Bilder wiederum eine unstimmige Diagnose scheint…

Niemand wird die Trivialität abstreiten, daß diese Welt voller Widersprüche, Unstimmigkeiten, Ungerechtigkeiten ist. Aber daß sich Lösungen oder, wie die post-hanseatische Linke á la taz meint proklamieren zu müssen, sogar politische „Erfolge“ derer, die sie beseitigen wollen, schon dann abzeichnen, wenn Ereignisse über den Bildschirm flimmern, deren Synchronizität suggeriert, daß sie sich „irgendwie“ gegenseitig erklären und rechtfertigen, bedeutet dann doch, die Leistungsfähigkeit (auch linker) politischer Theorie weit unter ihrem Niveau zu verkaufen. Vom moralischen Ausverkauf durch die nicht abgeleugnete Komplizenschaft mit aus dem Ruder laufenden Gewalttätern ganz zu schweigen.

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Über Joachim Landkammer

Joachim Landkammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis der Zeppelin Universität.

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