Herbst 19: Blumenberg-Lektüren

Blumenberg Ia, Schiffbruch mit Zuschauer

Noch zu dem, worüber wir auch noch nicht diskutiert haben…
Wenn man Wert auf Aktualisierbarkeit legt, könnte man an die Gegenüberstellung Horaz/Alkaion, die Blumenberg S. 46ff. (wichtig dazu auch die Anmerkungen 49ff.) diskutiert, anknüpfen und hier die immer wiederkehrende Frage nach dem Grad der Rede- und Erklärungslegitimität des Teilnehmers vs. der des Beobachters bewegt sehen. In der Medien-Welt heißt das: wer „sieht“ und „weiß“ mehr von einem Ereignis: der Reporter „vor Ort“, mit seinem „exklusiven“ Bildmaterial, „embedded“ und „live“ mittendrin im Getümmel, oder etwa der zu Hause sitzende, historisch reflektierende und über das konkrete Geschehen hinausdenkende Feuilletonist? Interessant ist ja hier, daß Blumenberg die konventionelle Vorrangsstellung des Direkt-Involvierten gegenüber dem „externen Beobachter“ auf den Kopf stellt, indem er darauf hinweist, daß wirklich „involviert“, „betroffen“, ja eigentlich viel eher der ist, der über das einzelne Geschehen hinaus blicken und insofern etwas tun (zumindest: „warnen“) kann, während der Anwesende „‚mehr‘ Zuschauer seiner Bedrängnis“ (S. 48) ist, weil er ihr hilflos ausgeliefert ist. Die „Beobachter“-Rolle ist nicht abhängig vom (Un)-Beteiligtsein, sondern davon, ob man sie in Richtung eines situationsverarbeitenden Handelns verlassen kann oder nicht (vgl. auch S. 47: „wer mehr sieht, trägt mehr Last“). Kein Zuschauer, der auch etwas anders tun kann als nur zuzuschauen, ist wirklich „Zuschauer“, sondern eigentlich „Teilnehmer“.

 

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Über Joachim Landkammer

Joachim Landkammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis der Zeppelin Universität.

2 Antworten zu Blumenberg Ia, Schiffbruch mit Zuschauer

  1. Anna Staab sagt:

    Aber darauf verweist doch nicht Blumenberg, sondern Blumenberg verweist auf diese mögliche Interpretation bei Horaz als eine von vielen, jeweils abhängig von Selbst- und Weltbild (als Philosophïn) (siehe mein Kommentar zu Blumenberg I).

    Wenn man sich drauf einlassen wollte: Situationsverarbeitendes Handeln/Verlassen der Situation, in der man vermeintlich dazu verdammt ist, zu hoffen/beten/schreien, könnte man ja auch die Entscheidung nennen, das Ertrinken nicht abzuwarten, sondern selbst herbeizuführen (ich habe sofort das Bild des „Falling Man“, eigentlich ja „Jumping Man“ vom WTC im Kopf), oder die von Blumenberg auch zitierte Haltung der Maria von Burgund (S.35, „Die Wahrheit zu sagen, ich starb diesmal nicht, aber es lag nicht an mir“).

  2. Im Prinzip ja, aber irgendwann müssen wir schon auch „dem Kaiser geben, was des Kaisers ist“, also Blumenberg zugestehen, daß diese ingeniöse Interpretation des Horaz-Alkaion-Verhältnisses mit der Umkehrung des Zuschauer/Teilnehmer-Verhältnisses eine genuine interpretatorische Leistung von ihm selbst ist – sonst reduzieren wir ihn ja vielleicht allzusehr auf einen bloß reproduzierenden Ideenhistoriker…
    Im Übrigen weiß ich nicht, ob ich die Entscheidung, den Untergang suizidal zu beschleunigen wirklich als „Tathandlung“ im Sinne einer aktiven „Situationsverarbeitung“ gelten lassen würde. Blumenberg unterscheidet ja an dieser Stelle das „Gegenwärtige“, über das der in der Situation Befangene nicht hinausdenkt (nicht hinausdenken kann), vom Zukünftigen, das für den zur Tat schreitenden Zuschauer immer eine Rolle spielt: und sei es nur, indem er sich überlegt, wie man künftig schiffsbruchsicherere Schiffe bauen könnte. Wer hingegen „nur“ den eigenen Tod noch früher herbeiführt als er ohnehin unausweichlich droht, hat sich damit selbst von jeder Form von Zukunftsorientierung abgeschnitten.

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