Adventskalender 2022. Die einundzwanzigste Stunde: 20:01 – 21:00 Uhr.

Primetime

20:00 *tick* *tick* *tick* *tick* *DONG* „Hier ist das erste deutsche Fernsehen mit der Tagesschau“ *dööö dööö dö dö dööööööööö*

Töne, die einem Sicherheit geben. Diese Qualität ist sicher nicht allein an die Tonfolge gebunden, sondern an eine Szene, die sich Abend für Abend in deutschen Mittelklasse-Haushalten abspielt. Der Tag geht langsam zu Ende. Das Abendessen wurde eingenommen. Man findet sich auf dem Sofa ein.

Ein Wohnzimmer in Westdeutschland, Anfang der Nuller Jahre. Gelbtöne dominieren. Wände: pastellgelb. Vorhänge: pastellgelb. Parkett: gelblich. Teppich: blasses senfgelb, darauf Quadrate in Orange und Ocker. Sofa: hellbeige. Vater: Birkenstocks, also geschlossene, dunkelblau, Wolldecke um die Schultern, Tasse, Rooibostee, Feierabendzigarette auf dem Balkon, dezente Spur von kühlem frischem Rauch auf dem Weg zurück zum Sofa, auch Spuren von Acqua di Giò Homme.

20:15 Intro „Wer wird Millionär“. Das ist jetzt schwierig, lautmalerisch. Ein Soundtrack, der gut ins Ohr geht, weil er gleichzeitig beiläufig und bombastisch ist. In diesen 29 Sekunden baut sich ziemlich viel auf. Ein Drumcomputer, der heute ein retrofuturistisches Matrix-Feeling erzeugt, verbindet sich mit pathetischen Bläsern, Altsaxofon, dazu kommen spacige special effects (*pew!* *pew!*). Dieses Video vermittelt in seiner Pixeligkeit und Blässe den richtigen medienarchäologischen Eindruck:

 

Für diejenigen, die sich vom Jingle nicht einlullen lassen wollen oder Musik lieber lesen, hier noch die Noten. Eine musikalische Darbietung mit echten, akustischen Instrumenten passt ebenfalls gut ins adventliche deutsche Wohnzimmer, zum Beispiel als Alternative zum Weihnachtsoratorium.

 

Auch visuell bewegen sich der Clip und die Studiogestaltung zwischen Weltraum, Mandala und Zahnrad, so hat man sich 1999 – im Jahr der Erstausstrahlung auf RTL – die Zukunft vorgestellt. Geschrieben haben den Soundtrack Keith und Matthew Strachan für das ein Jahr zuvor lancierte britische Vorbild „Who wants to be a millionaire?“. Ihr Sounddesign schallt seitdem nicht nur durch britische und deutsche Wohnzimmer, sondern auch durch amerikanische, nepalesische, russische, indische, australische und costa-ricanische.

Jingles, Soundtracks und Intros sind das Herzstück der TV-Gemütlichkeit. Sie funktionieren durch Wiederholbarkeit. Ihre regelmäßige Wiederholung ist es, die Vertrautheit erzeugt: man weiß, was jetzt kommt. Man weiß, dass jetzt Abend ist und man sich nicht mehr anstrengen muss. Punkt 20 Uhr ist die magische Grenze zum richtigen, zum eigentlichen Abend. Danach noch etwas allzu aktiv zu tun, gar zu arbeiten, fühlt sich falsch an.

Jingles sitzen tief, sie sind im sensorischen Gedächtnis für immer gespeichert. Auch wenn man sie jahrzehntelang nicht gehört hat, bringen sie einen sofort zurück ins gelbe Wohnzimmer. Deshalb machen sie so nostalgisch, mehr noch als Popsongs. Sie sind die Paratexte des Fernsehens, wir unterschätzen immer, wie oft wir sie gehört haben, weil sie sich trotz ihrer Allgegenwart erfolgreich unsichtbar machen.

Das Nette an „Wer wird Millionär?“ sind seine familienfreundliche Langweiligkeit und öde Neutralität. Trotzdem wird man bei der Stange gehalten. Die Sendung schafft es, einen Modus der angenehmen Langeweile zu kreieren, in dem die Gedanken schweifen, aber nicht abschweifen, nie unangenehm tief werden. Ohne den Jingle und die anderen Hintergrundsounds würde dieser Modus atmosphärisch nicht funktionieren. Vom dramatischen *düdüdüdüdüdDÜÜÜÜÜM*, wenn ein neuer Frageblock anfängt, zum düster pulsierenden Pochen, wenn dann die schwierigeren Fragen kommen. In dieser Soundlandschaft finden sich alle wieder, auch Kinder, und Günther Jauch, das Gesicht der deutschen TV-Gemütlichkeit, gibt mit seiner unproblematischen Ausstrahlung allen ein gutes Gefühl, in Deutschland zu leben.

Damit die beschriebene Wirkung zustandekommt, braucht es aber noch mehr: das stabile Arrangement aus Sofa, Beistelltisch und Fernseher, indirekte Beleuchtung, Heizungen, die auf 4 gedreht sind, Snacks, textile Artefakte der Gemütlichkeit, im Dezember Adventsdeko, außerdem mehrere Personen, die das routiniert und wortlos so praktizieren. Sehr voraussetzungsvoll, ich weiß. Mit Laptop oder Beamer braucht man es gar nicht erst zu versuchen, auch nicht mit seltsamen Kissenwänden auf dem Bett, die eine Sofalehne nachbilden sollen.

Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

  • Beitrag teilen

  • Recent Posts