Adventskalender 2022. Die zweiundzwanzigste Stunde: 21:01 – 22:00 Uhr.

«Intellektuelle Fischsuppe»

21.24 Uhr. Das Stück würde nach zwei Stunden ohne Pause bald vorbei sein. Blieben vielleicht zwanzig Minuten, um den Zug am Gleis vierzehn zu erreichen. Nicht grade üppig, aber der Weg ist so kurz wie vertraut. Unangenehm vielleicht, wenn das Publikum sehr begeistert sein würde und ich aufstehen müsste, während alle noch klatschten. Immerhin, ein Platz ganz rechts am Gang. Schade zwar auf die zentrale Sicht zu verzichten, aber wenn möglich im großen Saal immer den Sitz schräg rechts wählen, mit Blick auf Bühne und Publikum. Heute ein Ein-Mann-Stück und der zu vermutende Applaus nach dem Schlusserguss setzt ein und übertönt mein Aufbrechen und dauert an und klingt nach. Er hatte also gefallen, der Käpt’n. Die schwarze Bühne, drei Eimer voll Wasser, Blut und –. Die Reaktionen auf den Sitzen waren greifbar gewesen: Lachen, Schlucken, Luft anhalten. Schwer zu sagen, ob es wen gestört hatte, dieses Ein-Mann—Mannsbild des fanatischen Walfängers, das Rumgespritze mit Flüssigem, rot, wässrig, weiß, das Spermazet, was soll das sein? Walsperma? Die kurze Online-Suche beim Durchqueren des Foyers ergibt, dass Spermazet weder Walsperma noch weiß ist. Die fett- und wachshaltige Flüssigkeit aus dem Kopf des Pottwals, die früher für seinen Samen gehalten wurde, hat einen eher goldenen Farbton, wie Honig, Gewürztraminer oder Urin. Jetzt wäre es gut zu wissen, welchen und vor allem wie viel Raum das Spermazet in der Romanvorlage einnahm. Das Buch zu lesen hätte sich vielleicht gelohnt, aber: ein Mann, der völlig fanatisch die Weltmeere bereist, um sich an einem Wal zu rächen, der ihm das Bein abgerissen hat? Keine besonders vielversprechende Storyline. Ich stolpere, beinahe. Über die Beine von einem, der lieber nicht auf dem Asphalt sitzen sollte, schon gar nicht liegen. Lugt da ein Stück Pappe unter dem Mantel hervor? Vielleicht ein Umzugs- oder Pizzakarton. Ein Blick auf die Uhr, 21.40, keine Zeit, um Fragen zu stellen, keine Zeit, um oben im Bahnhof noch Pizza zu holen, besser die grüne Ampel erwischen. Wo könnte ich gleich morgen das Buch auftreiben? Ohne die Eltern fragen zu müssen, ohne wem zu schreiben, bei dem ich mich seit Wochen nicht gemeldet hatte. Die Stadtbibliothek würde geschlossen sein. Die Bücherschränke am See, über der Altstadt, im Park abklappern wäre eine Option. Nicht ausgeschlossen, dass dort irgendwo zwischen Dan Brown und Max Frisch der weiße Wal zu finden war. Ich stolpere wieder, beinahe. Jemand hat seinen Arm auf meinen gelegt, ich bin zurückgeschreckt, hinter mir die Bordsteinkante. Der Unbekannte schaut irritiert, hatte mich wohl warnen wollen, wie ich so auf den Bahnhof zusteuernd, achtlos über die Tramschienen lief. Ich lächle, nehme die letzten Meter im Laufschritt, verschwinde im Bahnhofsgebäude, durchquere die Halle, erklimme die Treppen, erreiche das Gleis. Der Zug steht schon, Abfahrt 21.52 Uhr. Ich nehme Platz, rechts, links, gegenüber frei, klappe den Laptop auf. Unter den Suchergebnissen dieser Kommentar, erschienen 1909: «unausgeglichenes Werk von übertriebener Länge», geschrieben in einem «teils gequälten Stil». Woanders steht, der Biograph des Autors beschreibe dessen Roman als «intellektuelle Fischsuppe». Ich tippe Notizen in ein leeres Dokument: «Die Farbe Weiß, weiß ist keine Farbe, sind Wale weiß?, Weiße Flecken auf der Landkarte nie weiß, Misogynie als Zitat auf der Bühne clever —> Wale stechen, Frauen stechen, ha-ha, Obschon, Obschon, Obschon, Wahn, Sinn? Abgrund, Klamauk, Orgasmus, Publikum = Mannschaft, wer will da nicht dazugehören?, ICH, ICH, ICH.».

 

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Über Frieda Meding

Frieda Meding ist Studentin am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und arbeitet am Lehrstuhl für allgemeine Soziologie und Kultursoziologie der Humboldt-Universität zu Berlin.

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