Am Anfang des 2012 neu herausgegebenen Nachlaß-Texts „Quellen“ nennt Blumenberg zwei in der Geschichte begegnende „Grundformen“ von „Ordnungsrufen“: „ad res“ und „ad fontes“. Der erste Ruf, der ein (Zurück) „Zu den Sachen“ fordert, „bindet sich an die „Disjunktion von Sachen und Worten, Wirklichkeit und bloßer Rede, Realismus und Rhetorik“ (9). Wir kennen diese philosophiegeschichtlich u.a. mit Husserl verbundene Maxime („Wir wollen auf die ‚Sachen selbst‘ zurückgehen“ heißt es 1900 in den „Logischen Untersuchungen“) heute eher als eine sich mit dem naßforschen Elan eines endlich umstandslos die „Dinge“ anpackenden Pragmatismus präsentierende Polit-Parole, gerichtet z.B. gegen die endlosen „Schwätzer“ der „Altparteien“. Vor diesem Hintergrund gewinnt der Versuch, die poetische Sprache als ein von ihrer bloßen Instrumentalität und Medialität emanzipiertes, Vieldeutigkeit nicht nur zulassendes, sondern forderndes Material zu sehen, das jeden raschen Durchgriff auf „die“ Sachen verweigert, den Status einer brisanten Alternative – ganz abgesehen davon, daß die realismus-besessene Anti-Rhetorik sich auch nur als ein spezieller Fall von Rhetorik erweisen läßt. Freilich will auch Blumenberg nicht so weit gehen, die poetische Sprache von jeglicher Semantik zu entlasten; er bestimmt ihr Telos als „Freigabe der immanenten Tendenz auf die Multiplizität der Bedeutung“ (126). Schon dem Wort „Bedeutung“ wird so offenbar eine „immanente Tendenz“ zur „Deutbarkeit“ unterlegt, die zur titelgebenden „Vieldeutigkeit“ und zur „Bildung neuer Deutigkeiten“ (127, meine Kursivierung: ein mir so bisher nur bei Blumenberg begegneter Begriff) führt. Die Semantik (oder „Semantisierbarkeit“) auch der poetischen Sprache bildet so das „Geländer“, an dem auch das hermetischste Gedicht noch entlang geht und den Leser entlang führt: mit dieser Metapher könnte man vielleicht Blumenbergs ebenfalls metaphorisierte Formulierung von der „Mitgehbarkeit am Leitfaden eines semantischen Kontexts“ (129) etwas trivialisierend verlängern.
Gleichwohl stellt die vollständige A-Semantizität eine immer wieder erstrebte, im Fluchtpunkt der Steigerung und Übersteigerung zur dichterischen „Entselbstverständlichung der Gemeinsprache“ (128) liegende Ideal- und Zielvorstellung dar. Als unerreichbare Tangente (Kant hätte vielleicht vom „regulativen Ideal“ gesprochen) an diese Vorstellung dient das unendlich gradierbare und optimierbare Kriterium der „Musikalität“ der Sprache bzw. eben die Musik selbst, die seit ihrer „Flucht vor der Sprache“ in die sog. „absolute“ Instrumentalmusik nichts mehr „bedeutet“ – solange sie nicht in die dienende Funktion der Programm-Musik oder in andere externe, gebrauchsmusikalische oder bebildernde Abhängigkeiten zurückfällt. Fragwürdig bleibt allerdings, wie hier diese „Absolutheit der Musik als Idee und als Faszination“ (129) beschrieben wird: der Wille zur definitorisch gemeinten Kontrastierung zwischen dem Gerade-Noch-Sprachlichen der Poesie und dem Nicht-Mehr-Sprachlichen der Musik scheint die konstruktiven Freiheitsmöglichkeiten der Musik weit zu überschätzen bzw. überzubetonen. Im Gegensatz zur Sprache, die sich immer noch am (historischen) „Faktum der … mit bestimmter Bedeutungsausstattung vorgefundenen Sprache und an der Irreversibilität jedes mit der Sprache vollzogenen geistigen Prozesses“ (131) aufreiben muß, sei Musik prinzipiell ahistorisch:
„Die musikalische Formation schafft keine solchen Irreversibilitäten, sie ist in jedem Zeitpunkt im vollen Besitz aller ihrer Möglichkeiten“ (ebd.).
Das verwundert, nach all dem was Musikanalyse vor, mit und nach Adorno je zu zeigen versucht war: daß auch musikalische Werke nur verstanden und „geistig nachvollzogen“ werden können, wenn sie als logisch-stringenter Ablauf mit relativ plausibel identifizierbaren Abhängigkeiten sowohl von ihrer immanenten, selbstgesetzten Struktur als auch von vorausgehender und mitlaufender musikalischer „Tradition“ begriffen wird. Noch die sog. „aleatorische“ Musik, die sicherlich ein solches hier offenbar gemeintes Ideal völliger „Pfadunabhängigkeit“ realisieren will, läßt den Zufall nur innerhalb vom Komponisten vorherbestimmter Rahmen zu: „Das Werk [muss] eine gewisse Anzahl möglicher Fahrbahnen bieten, und zwar vermittels sehr präziser Vorkehrungen, wobei der Zufall die Rolle einer Weichenstellung spielt, die im letzten Augenblick eintritt“ (so Pierre Boulez 1960 über seine 3. Sonate).
Läßt sich Blumenbergs These (wenn es denn seine ist!) von der die Musik angeblich kennzeichnenden „Reinheit der ständigen Präsenz eines unbeengten Möglichkeitshorizontes“ (131) trotzdem retten? Vielleicht nur, wenn man nicht mehr über „Werke“ spricht, die sich immer auf eine formale Binnenlogik einlassen müssen, sondern über Musik sozusagen als noch unrealisierte „Idee“ auffassen, als reine Potentialität vor jeder menschlichen Komposition, die immer schon unter der mephistophelischen Irreversibilitäts-Verdammnis steht: „Das erste steht uns frei, beim zweiten sind wir Knechte“. Aber das würde vielleicht von den „Gedanken“ auch gelten, die ja nur „frei sind“ (wie es das Volkslied will), solange sie sich nicht sprachlich artikulieren und „festschreiben“ lassen müssen. Die von Blumenberg hier zur Schärfung der Poesie-Spezifik verwendete Musik-Idee beruht eher auf dem Unverständnis und dem Unsinns-Verdacht, der der Instrumentalmusik bei ihrem Entstehen entgegengebracht wurde, als z.B. Rousseau in seinem Artikel „Sonate“ für die Encyclopédie jeden von einer menschlichen Stimme gesungenen Laut über allen reinen Instrumentalklang stellte und Fontenelles seither berühmte rhetorische Frage zitierte: „sonate, que me veux-tu?“. Um „absolute“ Musik zu verstehen, sei so etwas nötig wie zusätzliche „Beschriftungen“ auf gewissen Bildern: „il faudroit faire comme ce peintre grossier qui étoit obligé d’écrire au-dessous de ses figures, c’est un homme, c’est un arbre, c’est un boeuf“. Daß wir heute Musik nicht mehr so denken, sondern sie uns von derselben „vehemente[n] Obstinanz gegen jede Verweisungsfunktion“ (133) geprägt sehen wie laut Blumenberg die Poesie, daß wir aber gleichzeitig auch annehmen (und ggf. zeigen können), daß sie sich durch Gestaltung, Konsistenz, durch ein „Dennoch formaler Integration“ (135) auszeichnet, läßt die hier von Blumenberg in Anspruch genommene Musik-Sprache-Opposition als nicht wirklich plausibel erscheinen.
Wie eng die Grenzen zwischen der Freiheit des Unwahrscheinlichen und den Routinen des Erwartbaren selbst bei einer Musik liegt, die durch „Improvisation“ auf den Überraschungsmoment der musikalischen Jeweils-Gerade-Jetzt-Entscheidung setzt, läßt sich vielleicht an einer Rezension ablesen, die am 14.10. in der FAZ erschienen ist. Zum Auftritt der 83-jährigen (!) Jazzpianistin Carla Bley beim Enjoy-Jazz-Festival in Heidelberg schreibt der bekannte Musikkritiker Wolfgang Sandner:
Ihre [Carla Bleys] Kunst balanciert immer auf des Messers Schneide.Wollte man sie mit einem einzigen Wort charakterisieren, dann wäre es das so unscheinbare wie wichtige Umstandswort „fast“. Wie Carla Bley stets haarscharf an der Konvention vorbei schreibt, eine Melodie fast so spielt, wie man es erwarten würde, mit jener leichten Ironie, die dem Hörer sagt, nimm es nicht so, wie es klingt, achte darauf, dass hier nur mit Gesten gespielt wird, dieses „fast sentimental“, „fast wie eine Hymne“, etwa bei ihrem grotesk-bissigen „Spangled Banner minor and other patriotic songs“, macht den Reiz ihrer raffiniert einfachen Kompositionen aus.
Daß auch im Jazz dann nur eine „Sonata quasi una Fantasia“ – Sandner spielt wohl auch auf Beethovens Titel für seine Sonate op. 27 von 1801 an – zu hören ist, eine „Fast-Phantasie“, stellt die Musikerfahrung neben die eines Gedichts: „die unerwartete Erfüllung einer im Durchgang zweifelnden, wenn nicht verzweifelten Erwartung“ (135).