Adventskalender 2022. Die dreiundzwanzigste Stunde: 22:01 – 23:00 Uhr.

Kippstunde

Ein kurzer Blick nach oben. Ein Tasten auf dem klebrigen Tisch. Ausatmen. Nachspüren. Was schafft der Körper noch? Was verlangt er? Wiegt die Müdigkeit mehr als das Bedürfnis nach Geselligkeit? Ein bereichernder Ort, ein Ort, an dem Sozialfiguren und soziale Strukturformen sich spielerisch ablösen. Hierarchie, Stamm, Netzwerk, Freundschaft — man täusche sich nicht bei diesem Reigen.
An diesem Ort trifft alles zusammen unter der Suggestion der Geselligkeit. Ein Streitgespräch unter Kolleg*innen? Getarnt als gemütliches Mittagessen. Der Beginn einer Anstellung und Karriere? Bei einem launigen Glas Wasser. Manche gönnen sich ein Stück Kuchen, um kreatives Denken anzuregen (ist da ein voller Magen zuträglich?). Er wandelt sich im Laufe des Tages, dieser Ort der Geselligkeit, Nahrungsaufnahme, Verklärung, der auratischen Gewalt, des verdeckten Streits, der Morgenmüdigkeit, Euphorie, Aporie, Krise, Sinnsuche. Hinter- und Vorderbühne zugleich.
Doch nun zu später Stunde entscheidet sich, was der Ort noch sein will an diesem Tag. Und auch wer man selbst darin zu sein vermag. Should I stay or should I go now?
Kippt der Ort? Manifestiert sich die Unterseite, manche sprechen vielleicht von Außenseite, als wären hier Schräge Dinge am Werk. Stranger Things durchkreuzen den Raum: Publikum. Die Trennwände zum übrigen Raum sind aufgelöst, die Vorstellungen geschafft, durchlitten oder genossen. Vielleicht führt an diesem Abend das Kunsterlebnis zum zivilgesellschaftlichen Gespräch?
Und man selbst? Verwandelt man sich der Stimmung an? Freude und Neugier hier, Niedergeschlagenheit und Müdigkeit dort. Oder gelingt der Aufbruch aus diesem Sozialkontext, dessen Käfigstangen man selbst aus eigener Begeisterung schmiedet?
Bleibt man, so ist die Kontrolle verloren. Der Abend kann lang werden, das Gespräch ehrlich ohne Rücksicht auf diplomatische Zurückhaltung. Essen wird noch serviert bis 22:59. Ein Grund zu bleiben. Wird ein Wein dazu bestellt? Vielleicht schon die Vorentscheidung in dieser Kippstunde.
Aufbruch würde bedeutet: Stille. Ruhe. Plötzlich. Raus aus dem engen, dichten, funkenschlagenden Sozialraum und rein in die Nacht der Stadt. Ein Heimweg zum Ausklingen, in dessen Schwingungen sich bereits der kommende Tag ankündigt. Schlaf und Neubeginn.
Oder aber der Wunsch nach Geselligkeit obsiegt. Warum den Tag durchstehen, wenn nicht am Ende bleiben?
Die Kantine wird zum Wohnzimmer. Gut versorgt mit Speis und Trank. Beheizt (nicht wie die leere Wohnung, die ohnehin nur zum Schlafen taugt). Und vor allem mit einem überbordenden Angebot an Interaktionsgelegenheiten. Kolleg*innen aus Technik und Ensemble, liebgewonnenes Publikum, externe Kolleg*innen, die gerade den Weg in dieses Theater gefunden haben, vielleicht eben auf der Bühne standen. Allianzen werden geformt, erneuert oder durch ehrliche Worte auf die Probe gestellt. Vielleicht doch die entscheidende Stunde des Tages und nicht bloß eine kleine Belohnung für Entsagungen und Stress?
Ich hol mir Wein. Setze mich dazu. Selbstzerstörung und Raubbau? Oder Genuss und Geselligkeit? Mit Sicherheit beides. Vor 22:59 fällt die Entscheidung, wie der Tag endet. Meist hilft die verkürzte Nacht, um in den nächsten Tag zu starten: Ach, dafür macht man man all den Rest! Die Kippstunde, die einen erinnert, warum man zurückkehrt – und die den Aufenthalt verlängert. Stunden später dann auf dem Heimweg noch ein wenig Musik auf den Ohren: “Welcome to ….and you will never leave”.

 

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Über Martin Valdés-Stauber

Martin Valdés-Stauber ist Soziologe und Dramaturg. Gegenwärtig leitet er an den Münchner Kammerspielen den künstlerischen Forschungsbereich “Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart” und wirkt in seiner Heimatstadt Kaufbeuren als Beauftragter für Offene Gesellschaft.

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