Mit Behörden reden – Formularreplik mit Morgenstern (I)

Work in progress – 1. Lieferung

Die Behörde

Korf erhält vom Polizeibüro
ein geharnischt Formular,
wer er sei und wie und wo.

Welchen Orts er bis anheute war,
welchen Stands und überhaupt,
wo geboren, Tag und Jahr.

Ob ihm überhaupt erlaubt,
hier zu leben und zu welchem Zweck,
wieviel Geld er hat und was er glaubt.

Umgekehrten Falls man ihn vom Fleck
in Arrest verführen würde, und
drunter steht: Borowsky, Heck.

Korf erwidert darauf kurz und rund:
»Einer hohen Direktion
stellt sich, laut persönlichem Befund,

untig angefertigte Person
als nichtexistent im Eigen-Sinn
bürgerlicher Konvention

vor und aus und zeichnet, wennschonhin
mitbedauernd nebigen Betreff,
Korf. (An die Bezirksbehörde in –.)«

Staunend liests der anbetroffne Chef.

 

(Christian Morgenstern, aus: Galgenlieder, ca. 1910)

Formulare operieren immer mit dem Risiko der Inkongruenz, der mehr oder weniger deutlichen Nicht-Passung zum von ihren Erstellern intendierten Zweck – und zum von ihnen antizipierten Adressaten. Hegelianisch: das Allgemeine, das das Formular vertritt und das durch das je Einzelne, das in die vom Formular frei gelassenen „Felder“ einrücken soll (die militärische Metapher scheint angebracht) erst zum konkreten Besonderen, zum ordnungsgemäß erfaßten „Fall“ wird, riskiert mit seinen formalen Leerstellen auf inhaltliche Leere zu treffen, auf Nicht-Passungen, auf vollständig „Nicht-Zutreffendes“ (es gibt also nichts „Zutreffendes anzukreuzen“) oder gar auf vollständige Absenzen. Zur Vorbeugung dieses Risikos sehen zumindest elektronische Formulare meist besonders gekennzeichnete sog. „Pflichtfelder“ vor, also Leerstellen, die nicht nicht ausgefüllt werden können, bei Strafe des vollständigen Verzichts des Ausfüllenden auf den seinerseits von ihm intendierten Zwecks. Das elektronische Formular ist dadurch schon mit einem präselektiven Mechanismus ausgestattet, der wesentlich „unvollständig“ (und daher grundsätzlich „falsch“) ausgefüllte Formulare gar nicht erst an die weiterverarbeitende Behördeninstanz weitergibt. Allerdings wird gerade durch diese im Formular markierte Unterscheidung zwischen „wesentlichen“ und „optionalen“ Informationsanforderungen an den „User“ der Verdacht ihrer generellen Willkür nahegelegt; wenn Formulare eingestandenermaßen immer mehr abfragen, als eigentlich nötig ist, stellen sie implizit ihre eigene Notwendigkeit tout court in Frage.

Besonderem Willkürverdacht unterliegen daher auch formularisierte und daher standardisierte Anfragen, die gänzlich auf behördlicher Initiative und rein staatlichem Auskunftsverlangen beruhen, wie etwa bei „Volkszählungen“.

(Es ist vielleicht kein Zufall, daß ausgerechnet (?) im Rahmen einer Volkszählung vor ca. 2019 Jahren jemand „zur Welt kommt“, der in keinerlei weltliches Formular passen wird. Dem bürokratischen Akt einer okkupierenden Welt-Macht wird eine „Erscheinung“ präsentiert, die durch reine „Überzähligkeit“ jede zählende weltliche Macht transzendiert.)

Volkszählungsartige Formulare müssen besonders fordernd und „geharnischt“ auftreten, weil sie – im Unterschied zu vielen anderen formularisierten Gelegenheiten – auf kein reziprokes Interesse des Adressaten an der „freiwilligen“ Selbstauskunft zählen können. Der möglichen Auskunftsverweigerung wird durch die Radikalität der vorgelegten Fragen vorgebeugt: das Formular stellt den „ganzen Menschen“, sein ganzes „Wesen“ (á la Heidegger als Verb aufgefaßt) in Frage. Wer zu diesem seinem abgefragten Wesen nichts oder nicht umfassend antworten kann, hat seine ganze Existenz verwirkt, nicht nur aus behördlicher Sicht. Genau deswegen ist die in Morgensterns Gedicht simulierte Situation interessant, in der ein die Existenz in Frage stellendes Formular auf ein dezidiert nicht-existentes Wesen trifft. Hier wird nicht nur eine poetisch und imaginativ „interessante“ Konstellation verhandelt, nicht nur ein ironisch-parodistischer Witz über bürokratische Zumutungen gemacht, sondern vielleicht das konstitutive „Leerstellen“-Problem von formalisierten Verwaltungsakten allgemein thematisiert (vgl. dazu Peter Plener, Formulare am Fließband).

Morgensterns Figur „Korf“ findet sich attackiert („geharnischt“ ist, wer seine offensiven Absichten durch defensive Gewappnetheit verschleiert) von einem aggressiv Personaldaten fordernden Formular, das ihn mit einer (vom Leser leicht verlängerbaren) Reihe von W-Fragen belagert, die auch die biographische Intimität belangen (bzw. hier so formuliert sind, daß sie eine größere Intimität suggerieren; die übliche und scheinbar harmlose Standardfrage nach der „Religionszugehörigkeit“ wird hier dargestellt als ziemlich indiskrete Erkundigung danach „was er glaubt“). Das so in seinen Grundzügen angedeutete Formular schließt mit zwei leicht widersprüchlichen Rahmen-Informationen: zum einen mit der Androhung unmittelbarer („vom Fleck“) staatlicher Gewalt – wobei deren Eintretungsgrund gar nicht genau beschrieben wird: die Wendung „Umgekehrten Falls“ läßt sich auf keinerlei „richtigen Fall“ beziehen, das „Entweder“ zu diesem angedrohten „Oder“ ist unklar (die „falsche“, die „unvollständige“ Beantwortung der Formularfragen oder die Nicht-Beantwortung?). Die behördlichen Formularproduzenten bearbeiten also das oben beschriebene, gerade durch seine ungenaue Beschreibbarkeit brisante „Risiko der Inkongruenz“ mit der Inaussichtsstellung extremer Sanktionen.

Die andere Information ist eine, die man bei Behördenformularen (heute?) am wenigsten erwartet: das Formular erscheint mit (Nach-)Namen firmiert, sogar hier mit zweien. Die sonst in der Anonymität „der“ Behörde ungehört verhallende Frage jedes Formularausfüllenden „wer will denn das von mir wissen?“ erhält hier eine schein-konkrete Antwort: „schein“- deshalb, weil jeder weiß, daß nur eine „kafkaeske“ Aussicht besteht, diesen so identifizierten und zu identifizierenden Personen jemals tatsächlich face-to-face gegenüberzustehen. Das Gedicht läßt außerdem offen, ob es sich um handschriftliche Unterschriften handelt oder um „vorgedruckte“ feste Bestandteile des Formulars. Daß der Name „Heck“ hier tatsächlich „des Reimes wegen“ fällt, könnte man lesen als Bestätigung der zweiten Möglichkeit.

Die nun den zweiten Teil des Gedichts ausmachende „Antwort“ des Adressaten fällt nicht nur insofern radikal anti-bürokratisch aus, als sie offenbar im „formlosen“ Brief und „im Fließtext“ erfolgt – die Leerstellen des Formulars werden nicht pflichtschuldigst ausgefüllt, die einzelnen Personendaten-Abfragen werden schlichtweg ignoriert – sondern auch insofern, als die unumgängliche Voraussetzung für die Adressierbarkeit des Formularempfängers negiert wird: seine physische Existenz (*). Das Paradox, daß trotzdem aus dem „Off“ eines Nicht-Seins eine Reaktion (wenn schon keine wirkliche „Antwort“) auf das Formular-Ansinnen erfolgt, ist vielleicht auflösbar als dichterischer Topos der irrealen subversiven Übererfüllung als Reaktion auf staatliche Überforderung – so etwa wie in Brechts „Ballade vom toten Soldaten“ ein bereits gefallener Soldat noch einmal in den „Heldentod“ zieht. Der vorauseilende und überschießende Gehorsam auch von seiten eigentlich nicht Betroffener und nicht „Geeigneter“ zersetzt die norm- und normalitätsorientierte Pflichterwartung der Machthaber (ein anderes literarisches Beispiel dafür wäre die Aushebungs- bzw. Rekrutierungsszene in Thomas Manns „Felix Krull“).

Korfs in direkter Rede (während die Formularformulierungen nur in indirekter Rede wiedergegeben war) präsentierte Antwort oszilliert allerdings zwischen gefügigem Gehorsam und radikaler Verweigerung. Sie imitiert das Amtsdeutsch der Behördensprache (charakteristisch z.B. die textimmanenten, selbstreferenziellen Adiektive „untig“ und „nebig“) und gibt sich daher zunächst pseudo-servil; als „subversiv“ darf aber bereits angesehen werden, daß sie, in drei Terzinen kunstvoll gereimt, den einen langen Satz, aus dem sie besteht, mit einem über drei Zeilen hinweg reichenden doppelten zusammengesetzten Verb („stellt sich […] vor und aus“) spinnt. Sie schließt mit einer quasi-dokumentarischen Volte, indem sie nach der „Unterschrift“ die Ortsangabe omittiert: wie die hier geschilderte poetische Situation gerade durch Absenz „erstaunliche“ Präsenz manifestiert, wirkt diese Auslassung (quasi: aus „Zeugenschutzgründen“) als Pseudo-Kennzeichen eines authentischen Dokuments und gleichzeitig als Mittel poetischer Universalisierung.

Die (im traditionellen Terzinen-Schema vorgesehene) alleinstehende Schlußzeile schildert knapp und bündig die unwahrscheinliche Reaktion der „Behörde“ auf eine unwahrscheinliche Reaktion auf ein Formular: der „anbetroffene Chef“ (das Behördendeutsch hallt hier zurück-wirkend nach, bis in die eigene Identitätsbeschreibung hinein), mit dem die Behörde nun zwar eine Persona, aber noch keinen Namen erhält (ist es vielleicht Herr Borowsky? Herr Heck? oder keiner von beiden?) reagiert auf die einzige Weise, mit der der Vertreter des „Allgemeinen“, des mit „Allem“ Rechnenden, auf trotz alledem völlig unvorhergesehene, „unvorbereitete“ Phänomene reagieren wird: mit offenem Mund. Dieses Staunen muß auch das des „Chefs“ höchstpersönlich sein, denn nur auf höherer, wenn nicht höchster Ebene zeigt diese Reaktion die Hilflosigkeit des ganzen Apparats; denn nur „der Chef“ ist nicht nur zuständig für nonkonformen Publikumsrespons der seltsameren Art, nicht nur er kann sich ihn „leisten“ (auf allen unteren Bearbeitungsebenen der Organisation werden „außergewöhnliche Fälle“ einfach sofort „nach oben“ gegeben), sondern auch nur er exemplifziert die fundamentale Überforderung der gesamten im Titel angesprochenen „Behörde“ durch diesen nicht vorgesehenen „Sonderfall“. Erst hier, beim „staunend lesenden“ Chef (alle anderen Instanzen der Behörde haben wahrscheinlich gar nicht „gelesen“, sondern nur „registriert“) kommt der durch Rückzug in die poetische (Selbst-)Fiktion produzierte zivile Widerstand gegen das bürokratische Prinzip zu seiner Geltung. Das „Staunen“ markiert bekanntlich der Beginn der Philosophie – vielleicht auch das Ende der Bürokratie?

(to be continued)

* In einer weitergehenden Analyse müßte darauf hingewiesen werden, daß Morgenstern auch in anderen „Galgenliedern“ in selbstreflexiver Ironie mit der „eigentlichen“ Nicht-Existenz seiner im Gedicht „Das böhmische Dorf“ das erste Mal und „nur des Reimes wegen“ eingeführten (und manchmal mit dem „von“ vor dem Namen geadelten) Figur spielt. So wird etwa in dem Gedicht „Korf-Münchhausen“ dem Leser versichert, daß er wie weiland Münchhausen und als sein direkter Imitator nicht in dem Sumpf untergehen wird: „Denn, wie man schon oft erfuhr, / ist v. Korf kein Mensch wie wir, / ist ein Mensch pro forma nur.)“ Auch in „Korf in Berlin“ „ist er [Korf] weder männ- noch weiblich / sondern schlechterdings ein Geist, / dessen Nichtsein unausbleiblich“. In „Die Waage“, die jedem sein Gewicht durch eine „Glockenspielansage“ musikalisch mitteilt, heißt es in fast wörtlicher Entsprechung: „Nur v. Korf entsendet keine Weise, / als (man weiß) nichtexistent im Sinn / abwägbarer bürgerlicher Kreise“. Hier vertritt das per Waage feststellbare Gewicht die per Formular feststellbare „bürgerliche“ Existenz.

„Die Galgenpoesie ist ein Stück Weltanschauung. Es ist die skrupellose Freiheit des Ausgeschalteten, Entmaterialisierten, die sich in ihr ausspricht.“ schreibt Morgenstern in „Wie die Galgenlieder entstanden“, einer sonst in Bezug auf diese Frage eher wenig aufschlußreichen Vorrede zu seinem Gedichtband. Mit dem makabren Bild des „Sich-Selbstausschaltens“ durch das Sich-an-den-Galgen-Hängen-Lassen wird die Suche nach dem „Salz der Erde“ als Flucht in die poetische Freiheit der Nicht-Existenz zelebriert.

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Über Joachim Landkammer

Joachim Landkammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis der Zeppelin Universität.

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