Joseph Vogl beginnt das Vorwort seiner 2002 das erste Mal erschienenen Habilitationsschrift Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen* (dessen Lektüre und Diskussion der Spirituskreis sich in diesem Frühling 2020 widmen wird) mit einer auf M. Mead und K. Polanyi gestützten Beschreibung der Lebenswelt eines Einwohners von Papua-Neuguinea.
In ihr lasse sich, so seine Rekonstruktion, keinerlei „homogene[r] ökonomische[r] Ordnungszusammenhang“ erkennen (10). Weil es keinen „ökonomische[n] Akt im strengen Sinn“ und daher auch keinen homo oeconomicus gebe, würden unsere (also „unsere westlich-europäisch-modernen“, so müssen wir das wohl lesen) „Kriterien von Haben und Nicht-Haben, von Eigentum und Nützlichkeit, von Arbeit und Aneignung nicht genügen, um die Gegebenheit, die Verteilung und die Zirkulation der materiellen Dinge zu fassen“ (11).
Das Befremden über die „Fremdheit“ solcher Verhältnisse sei der Ausgangspunkt für sein Buch, sagt Vogl (ebd.); freilich kursieren ähnliche ethnologische Beschreibungen der Welt der sog. „primitiven Völker“ seit langem. So korrespondiert die Vorstellung von (eben nicht: „primitiven“, sondern hoch-) komplexen Zusammenhängen in der Vorstellungs- und Praxiswelt der Naturvölker etwa mit dem, was Ernst Cassirer 1944 in „An Essay on Man“ unter Bezugnahme auf Durkheim, Levy-Bruhl und Malinowski zum sog. „mythischen Denken“ geschrieben hat. Im Gegensatz zur Wissenschaft, die strenge Unterscheidungen einführt, wäre der mythische „view of life […] a synthetic, not an analytical one. Life is not divided into classes and subclasses. It is felt as an unbroken continuous whole which does not admit of any clean-cut and trenchant distinctions. […] Nothing has a definite, invariable, static shape“ (E. Cassirer 1944, S. 108). Die von Vogl erwähnte Unmöglichkeit, die für uns gebräuchlichen ökonomischen Unterscheidungen anzuwenden, die ihm zur Relativierung moderner Ökonomik dient, ließe sich also ihrerseits „relativieren“: sie wäre nichts als ein Beispiel für die „ganzheitliche“ Denkweise eines vor- oder zumindest nicht-wissenschaftlichen „mythischen“ Weltbilds. Damit wäre aber auch ihre argumentative Funktion in Vogls Vorwort teilweise in Frage gestellt: der Rück- oder Seitenblick auf das ethnologisch erforschte Außer-Europa zeigt uns dann nicht so sehr eine „Alternativ-Ökonomie“, die implizit unser ökonomisches Denken delegitimiert, sondern eine radikal differierende Gesamt-Denk- und-Lebensweise, mit der es dann vermutlich schon etwas schwerer fällt, sich aus „anti-ökonomischen“ (anti-kapitalistischen?) Gründen empathisch zu solidarisieren.
Der andere Punkt, über den bei der ersten Sitzung zumindest ansatzweise diskutiert und gestritten wurde, war die Frage, ob nicht bei Vogl die Rede von einer „Poetologie des Wissens“ (13) doch allzu einfach den Boden bereitet für eine unproblematische Herbeiziehung von literarischem Material (obwohl natürlich die „Poetologie“ sich von „Poiesis“ und nicht von „Poesie“ herleitet…). Die Unterschiede zwischen Dichtung und Wissenschaft sollen nicht „nivelliert“ werden, heißt es (S. 14), gleichwohl läßt das Postulat eines den disziplinären Grenzziehungen vorausliegenden „unbekannten Landes“ (Deleuze, zit. S. 14) und seiner im „uneindeutigen Modus der Disparatheit“ (15) agglomerierten „Wissensordnungen“ den Verdacht zu, daß hier vielleicht dann doch Unzusammenhängendes, Heterogenes, Anders-Gedachtes miteinander auf unzulässige, ja letztlich: auf Zusammenhänge verdunkelnde Weise vermischt wird. So würde man vielleicht sagen können, daß wenn Marx sich über die „berühmten Robinsonaden“ (die eines der gemeinsamen Themen von Ökonomie und Literatur darstellen) „mokiert“ (S. 16), er damit ja schließlich auch genau jene Trennung von literarisch-schöngeistiger Spekulation und harter ökonomischer Analyse aufrecht erhalten und bestätigen wollte, die Vogl hier unterlaufen will.
Es wird jedenfalls im Lauf der Lektüre des Buchs darauf zu achten sein, ob hier nicht, bei aller Sympathie für den grenzüberschreitenden Verkehr zwischen Disziplinen, Gattungen, Denkweisen, Weltbildern, nicht die Fähigkeit zur modernen Kompartimentalisierung und relativen Autonomisierung des Denkens und Handelns in ihren je spezifischen Kontexten allzu schnell über Bord geworfen werden wird.
*Hier im Folgenden zitiert nach der 3. Ausgabe Zürich 2008 (diaphanes)
Wie kommen Sie zu der Deutung, dass es Marx um die Aufrechterhaltung der „Trennung von literarisch-schöngeistiger Spekulation und harter ökonomischer Analyse“ ging? Auch wenn es nahe liegt wird nicht ganz klar, ob Marx selbst in den Robinsonaden die Einführung der „narrative[n] Struktur in die Analyse der Wertbildung“ sieht, geschweige denn, ob das der Grund für seine Mokerie ist oder?
Konnten Sie herausfinden, auf welche Stelle Vogl hier Bezug nimmt?