Herbst 20: Kalkül und Leidenschaft

J. Vogl Ib: Nochmal zur „Poetologie des Wissens“ (oder: let´s forget Marx)

In der Diskussion über Vogls 2010 erschienenes (späteres) Buch Das Gespenst des Kapitals, das in dem mit Birger P. Priddat gemeinsam veranstalteten Blockseminar zur „Kulturphilosophie der Ökonomie“ thematisiert worden war, wurde auch die Frage nach dem epistemologischen Status und dem wissenschaftlichen Geltungsanspruch von Vogls Überlegungen gestellt, vor dem Hintergrund, daß er heutigen ökonomischen Theorien und Theoretikern praktisch jedwede Kompetenz zur Diagnose und zur Prognose der aktuell völlig chaotischen, kontingenten und irrationalen Wirtschaftswelt abspricht. Birger Priddat behauptete, daß zeitgenössische Ökonomen und Ökonomietheoretiker Vogl praktisch nicht ernst nehmen können (und ihn deswegen auch erst gar nicht lesen). Der Ausgangspunkt für die Distanzierung, bzw. eher: Entfremdung zwischen Vogls Ansatz und (aktueller) Wirtschaftswissenschaft wird aber vermutlich schon hier in dieser Habilschrift und in dessen Vorwort gelegt, und zwar dort, wo Vogl alles ökonomische Wissen zum konstruktivistischen (Fehl)-Griff erklärt. Der Ökonomie wird jeder realistische Gegenstandsbezug abgesprochen, weil sie ja „die Gegenstände, auf die sie zugreift, selbst erst konstituiert“ (13); sie erfindet also, wovon sie zu sprechen und was sie zu erklären beansprucht (es „gibt keine ökonomische Gegebenheit schlechthin“, ebd.), so daß ihre präsumierte Objektivität nur durch die „Formen ihrer Darstellung“ (ebd.) produziert wird. So erklärt sich die Reduktion dieses Wissens auf „Poetologie“, wobei man zunächst vermutlich an die harmlosere Bezugnahme auf die griechische „poiesis“ (das Machen, Herstellen) denken soll: aber der Vorwurf, daß es sich bei der Ökonomie um nichts als wirklichkeitsferne „reine Poesie“ handelt, ist freilich auch immer mitgedacht (nicht zuletzt daher legitimiert sich ja dann Vogls ästhetisierende Zusammenstellung von Ökonomie und Literatur). Wie immer man diesen Konstruktivismus-Vorwurf einschätzen und wie sympathisch man die Unternehmung einer „nominalistischen“ (ebd.) Kritik einer solchen weltfremd-irrealen Ökonomie halten kann, eines darf man wahrscheinlich auf jeden Fall konstatieren: eine „Kritik der politischen Ökonomie“ im Marxschen Sinne wird damit definitiv verabschiedet. Denn dessen programmatische Lesart der bürgerlichen Ökonomie insistierte ja gerade auf der Annahme, daß sie sehr wohl weiß, wovon sie redet: nämlich von handfesten, klar identifizierbaren „bürgerlichen“ Interessen. Marx warf der ökonomischen Theorie seiner Tage gerade nicht vor, ihre Gegenstände und Zusammenhänge wie Luftschlösser in den Himmel einer abgehoben „poetischen“ Theorie zu bauen, sondern auf der „soliden“ (wenn auch, für Marx, nur vorläufigen) Basis konkreter Besitzansprüche, Gewinnerwartungen und Ausbeutungsinteressen eine Legitimation und eine (for the moment being ja auch ziemlich gut funktionierende) Erklärung für das gängige, rationale, besitzbestandserhaltende ökonomische Handeln zu liefern. Marx‘ Vorwurf an die politische Ökonomie war nicht der einer nur noch poetologisch zu begreifenden Irrealität, sondern ganz im Gegenteil der einer allzu nah, allzu dicht am engen Denk- und Entscheidungshorizont des bürgerlichen homo oeconomicus „klebenden“ Realitätsverhaftetheit. An dieser hat er selbst ja epistemologisch auch festhalten wollen: auch eine sozialistisch-kommunistische Ökonomie bleibt eben streng „materialistisch“. Beim postmodernen Vogl hingegen löst sich ökonomisches Denken überhaupt auf in volatile Ästhetizismen, die zu „kritisieren“ sich eigentlich genauso wenig lohnt, wie es nichts als spießig-borniert wäre, ein (z.B.: dadaistisches) Gedicht auf seinen „Wahrheitsgehalt“ hin zu überprüfen.
Ich überpointiere, for the sake of controversy, aber im Lauf der weiteren Lektüre und Diskussion wird vielleicht tatsächlich im Einzelnen und Näheren zu überprüfen sein, ob sich diese konstruktivistisch-poetologische Herangehensweise nicht letztlich nicht nur ihres Gegenstands, sondern auch ihrer Aussagekraft und Relevanz beraubt.

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Über Joachim Landkammer

Joachim Landkammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis der Zeppelin Universität.

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