Herbst 20: Kalkül und Leidenschaft

J. Vogl Ia: Nochmal zu Robinson bei Marx

Da die Antwort auf die Rückfrage von C. Aglibut etwas länger ausfällt, diese hier nicht als „Kommentar“, sondern als eigener Beitrag. Ich habe bisher vier Stellen bei Marx identifiziert, in denen auf „Robinson“ Bezug genommen wird, und muß in der Tat meine Einschätzung etwas revidieren.

1) 1846/47 erwähnt Marx in „Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons ‚Philosophie des Elends‘“ Robinson nur kurz nebenbei, im Zusammenhang mit dem Vorwurf, Proudhon mache sich bei seiner narrativen Herleitung des Tauschwerts aus einem Urzustand freier Vergesellschaftung keine Mühe, zu erklären, wie der erste, „dieser einzelne Mensch, dieser Robinson, plötzlich auf den Einfall gekommen“ sei, seinen „Mitarbeitern“ erstmals einen Güter-Tausch vorzuschlagen.

2) Damit ist Marx´ Haupteinwand gegen die Robinson-Vorstellung als ökonomische Theorie-Figur aber bereits angedeutet, so wie sie 1857 in dem unvollendeten ersten Entwurf der „Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie“ (MEW 13, 1961, S. 615) breiter ausgeführt wird (siehe das ausführliche Zitat unten als „Anhang“). Die Vorstellung eines unabhängigen Einzelnen als Ausgangspunkt ökonomischen Handelns hat lediglich einen ästhetischen Sinn, sie darf nicht ideengeschichtlich als (romantisch-regressive) Vorstellung eines vormodernen „Natur“-Zustands gedeutet, sondern sie muß demaskiert werden als die ideologische Projektion (die Wunschvorstellung) des scheinbar unabhängigen bürgerlichen Individuums als eines „von Natur aus freien“ Menschen. Die einsame Insel, auf der man jede zivilisatorische Errungenschaft nur der eigenen Arbeit verdankt, repräsentiert – so könnten man vielleicht im Marxschen Sinne sagen – jene illusorische Leere, die die bürgerliche Gesellschaft um uns herum schafft, um uns zu suggerieren, auch wir seien alle vollständig unseres eigenen Glückes Schmied. (Im Übrigen sei kurz darauf hingewiesen, daß bei genauerem Zusehen ja auch die literarische Vorlage die Illusion der vollständigen Selbstschöpfung des bürgerlichen Individuums schon dadurch einschränkt, daß Robinson zumindest das „Anfangskapital“ seiner Inselbesiedelung in Form von Werkzeugen und Vorräten schwimmend aus dem noch vor der Insel liegenden Wrack rettet; vgl. dazu Rüdiger Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Wallstein 2002, 188ff.; diesen Hinweis verdanke ich Maren Lehmann, Systemtheorie als Hypothek, jetzt in dies., Theorie in Skizzen, Berlin 2011, S. 12).

3) Die dann 1859 veröffentlichte Version benennt das Problem nicht mehr mit dem Stichwort Robinson, sondern im 1. Buch (Vom Kapital), Abschn. 1 (Das Kapital im Allgemeinen), 1. Kap (Die Ware) wird unter dem Titel „Historisches zur Analyse der Ware“ nur noch von Ricardo gesagt, er betrachte „die bürgerliche Form der Arbeit als die ewige Naturform der gesellschaftlichen Arbeit. Den Urfischer und den Urjäger läßt er sofort als Warenbesitzer Fisch und Wild austauschen, im Verhältnis der in diesen Tauschwerten vergegenständlichten Arbeitszeit. Bei dieser Gelegenheit fällt er in den Anachronismus, daß Urfischer und Urjäger zur Berechnung ihrer Arbeitsinstrumente die 1817 auf der Londoner Börse gangbaren Annuitätentabellen zu Rate ziehen“. (MEW 13, S. 46).

4) Im ersten Band von „Das Kapital“ (1. Aufl. 1867) findet man – im 1. Buch (Der Produktionsprozeß des Kapitals), 1. Abschnitt (Ware und Geld), 1. Kapitel (Die Ware), 4. Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis (MEW 1, S. 90) – dann erstaunlicherweise einen durchaus positiv gemeinten illustrativen Bezug auf den Roman bzw. auf die auf ihn fußenden ökonomischen Modelle: „Da die politische Ökonomie Robinsonaden liebt [hier folgt in der 2. Ausgabe eine Fußnote, die auf die unter Punkt 3 o.g. Stelle verweist], erscheine zuerst Robinson auf seiner Insel. Bescheiden, wie er von Haus aus ist, hat er doch verschiedenartige Bedürfnisse zu befriedigen und muß daher nützliche Arbeiten verschiedner Art verrichten“ usw. Marx spielt hier in wenigen Zeilen das Szenario durch, diesmal aber gerade nicht, um dessen Absurdität herauszustellen, sondern um zu zeigen, daß in dieser vorbürgerlichen Produktionsweise wie im danach beschriebenen Mittelalter ein unmittelbares Verhältnis zwischen Arbeit und Wert besteht und eben (noch) nicht jener „Mystizismus der Warenwelt“ der „bürgerlichen Ökonomie“, der später den aktuellen „Fetischcharakter der Ware“ produzieren wird: „Alle Beziehungen zwischen Robinson und den Dingen, die seinen selbstgeschaffenen Reichtum bilden, sind […] einfach und durchsichtig“ und enthalten schon „alle wesentlichen Bestimmungen des Werts“. Hier wird also auf gewisse Weise das Denkmodell als solches rehabilitiert, auch wenn es nur noch einen ahistorischen, elementare Zusammenhänge demonstrierenden, also: nur einen didaktischen Sinn hat. Gleichzeitig wird die Differenz zu den Verhältnissen in der bürgerlichen Gesellschaft gerade unterstrichen und so der Gedanke an jede „Übertragung“ á la Ricardo unmöglich gemacht.

Mein Einwand gegen Vogl wird von diesen Belegen nun vielleicht sowohl widerlegt als bestätigt: im „Kapital“ läßt Marx die literarische Fiktion der Robinson-Situation als vereinfachtes, historisch nie realisiertes Modell zu (Literatur darf heuristisches Demonstrationsinstrument sein); in den früheren Schriften hingegen wird, wie ich vermutet hatte, das „Robinsonadentum“ als unglückliche, zu theoretischen Fehlschlüssen und Verschleierungen führende Vermischung der Genres Ökonomie und Literatur abgelehnt.

Im Übrigen vgl. zum Thema diesen mir bisher leider nicht vorliegenden Text:
Luca Basso, Marx gegen die Robinsonaden. Die Frage der Vereinzelung in: Michael Bies, Elisabetta Mengaldo (Hrsg.) Marx konkret: Poetik und Ästhetik des »Kapitals«, Wallstein 2020, 123-138

ANHANG:
Karl Marx, aus dem Entwurf der „Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie“ (MEW 13, 1961, S. 615f.):
„Der einzelne und vereinzelte Jäger und Fischer, womit Smith und Ricardo beginnen, gehört zu den phantasielosen Einbildungen der 18.-Jahrhundert-Robinsonaden, die keineswegs, wie Kulturhistoriker sich einbilden, bloß einen Rückschlag gegen Überverfeinerung und Rückkehr zu einem mißverstandnen Naturleben ausdrücken. So wenig wie Rousseaus contrat social, der die von Natur independenten Subjekte durch Vertrag in Verhältnis und Verbindung bringt, auf solchem Naturalismus beruht. Dies Schein und nur der ästhetische Schein der kleinen und großen Robinsonaden. Es ist vielmehr die Vorwegnahme der „bürgerlichen Gesellschaft“, die seit dem 16. Jahrhundert sich vorbereitete und im 18. Riesenschritte zu ihrer Reife machte. In dieser Gesellschaft der freien Konkurrenz erscheint der Einzelne losgelöst von den Naturbanden usw. die ihn in früheren Geschichtsepochen zum Zubehör eines bestimmten begrenzten menschlichen Konglomerats machen. Den Propheten des 18. Jahrhunderts, auf deren Schultern Smith und Ricardo noch ganz stehn, schwebt dieses Individuum des 18. Jahrhunderts – das Produkt einerseits der Auflösung der feudalen Gesellschaftsformen, andrerseits der seit dem 16. Jahrhundert neu entwickelten Produktivkräfte – als Ideal vor, dessen Existenz eine vergangne sei. Nicht als ein historisches Resultat, sondern als Ausgangspunkt der Geschichte. Weil als das naturgemäße Individuum, angemessen ihrer Vorstellung von der menschlichen Natur, nicht als ein geschichtlich entstehendes, sondern von der Natur gesetztes. Diese Täuschung ist jeder neuen Epoche bisher eigen <616> gewesen.“

Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Über Joachim Landkammer

Joachim Landkammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis der Zeppelin Universität.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

  • Beitrag teilen

  • Recent Posts