Nicht(s)tun, trotzdem (4.7.2017)
von Joachim Landkammer
Herfried Münkler spielt in seinem gestrigen Beitrag zur FAZ-Reihe “Weimarer Verhältnisse?” auf ein Bonmot des französischen Diplomaten Talleyrand (1754-1838) an, das immer wieder gern zitiert wird, wenn es um die Frage der Legitimität von Eingriffen in die sog. „inneren Angelegenheiten“ eines Landes durch militärische Operationen eines anderen Landes geht. Wer hier, eben etwa mit der Begründung der „Innerlichkeit“ dieser Angelegenheit, von einer Doktrin der Nicht-Intervention rede, muß sich von Talleyrand dann so belehren lasse wie jene vorlaute Dame, die ihn einst nach einer Definition dieses Begriffs gefragt habe: ,,Madame, non-intervention est un mot diplomatique et énigmatique, qui signifie à peu prés la méme chose qu’intervention.“
Man kann beiseite lassen, daß der Satz offenbar auf problematische Weise überliefert ist: manche Quellen lassen die Szene in England spielen und den Fragesteller den Dandy-Freund Lord Alvanley sein; in der englischen Version wird das verneinte Substantiv dann auch vom französischen Botschafter, statt „diplomatisch und enigmatisch“, sogar „metaphysisch und politisch“ genannt – was in der Sache nicht viel ändern dürfte. Auch ob man diesen Satz nicht mit dem Wissen um die allgemeine Haltung einer Politikerpersönlichkeit lesen muß, die als geradezu exemplarisch wendehalsig und opportunistisch eingeschätzt worden ist, kann man dahingestellt sein lassen, genauso wie man den (gleichwohl hoch interessanten) Zusammenhang von physischer Behinderung und politischem Ehrgeiz (Talleyrand hatte einen sog. „Klumpfuß“), also das Shakespearsche „Richard III“-Problem, außer Acht lassen darf.
Interessieren soll zunächst nur die Tendenz der mit der Formulierung vermittelten Behauptung, daß es keine Alternative zum „Intervenieren“ gibt. Die zugrundeliegende Vermutung klingt hoch plausibel, weit über jede außenpolitische Strategie hinaus: auch wer nichts tut, tut immer etwas. Man kann nicht nicht intervenieren. Jedes Unterlassen ist immer auch eine Form des Handelns. Wer also wirklich verschiedene, also unterscheidbare Handlungs-Optionen gegeneinander abwägen will, kann das immer nur durch das Nebeneinanderstellen verschiedener konkreter Aktionen tun, während es eine verfälschte Sicht- und Denkweise wäre, man könne (und vielleicht: müsse) sich erst einmal prinzipiell und formal zwischen Handeln und Nicht-Handeln entscheiden.
Aber so ganz kann das ja nicht stimmen. Es leuchtet unmittelbar ein, daß es Situationen gibt, in denen ein mit einem Verdacht oder einer Beschuldigung konfrontiertes Individuum zu Recht sagen kann, es habe „nichts getan“. Das ist natürlich sofort entlarvbar als ein unpräziser Ausdruck für die Aussage, man habe etwas Bestimmtes (nämlich das Vorgeworfene) nicht getan; gleichwohl wäre meine These, daß das „falsche“ nichts hier ja implizit meint: man hat nichts von Belang getan, nichts, was etwas zur Sache tut, nichts, was euch, die ihr mich jetzt hier befragt und anklagt, interessieren darf. „Nichts tun“ könnte nämlich – statt der banalen Unmöglichkeit, „wirklich gar nichts“ zu tun – vielmehr heißen, das nicht zu tun, was gerade gefordert bzw. erwartet wird UND stattdessen etwas Beliebiges anderes zu tun, etwas, das eben durch sein Anderssein, durch seine Unangemessenheit und Unerwartetheit das Erwartete negiert, verleugnet, nichtig sein läßt. „Nichts tun“ wäre dann ein durch die Verweigerung einer aus einem gegebenen Möglichkeitsspektrum wählbaren Handlungsoption alternatives und anderes Tun, dem man wegen dieser faktischen Oppositions- und Verweigerungshaltung die höhere Richtigkeit und Würde zugestehen darf, sich „Nichts“-Tun nennen zu dürfen.
Daß diese „Würde“ zweischneidig ist, spricht nicht gegen sie: wer sich vom Chef den Vorwurf anhören muß, er habe die ganze Zeit im Büro „nichts getan“, ist meist nicht gut beraten, wenn er mühsam aufzählt, was er alles „stattdessen“ getan habe – genauso wie es kaum sehr würdevoll zu nennen ist, wenn man sich gegen einen polizeilichen Verdacht eben nicht mit der stolzen Formel wehrt, man habe „nichts“ getan, sondern mit einer kleinlichen Alibi-Handlungserzählung herausredet. Überdeutlich wird die Relevanz einer beharrlichen „Nichts-Tun“-Formulierung bei allen Zumutungen des Mitmachens bei Kollektiv(un)taten unter totalitären Regimen: wenn hier die Talleyrandsche Formel gälte, daß auch das Nicht-Mittun immer ein Mittun ist, wäre so etwas wie Widerstand, Nonkonformismus, Individualmoral auch schon sprachlich unvorstellbar. Hier würde die opportunistische Nichtunterscheidung zwischen „Intervention“ und „Nicht-Intervention“ nur dazu mißbraucht werden, jedes Mitläufertum opportunistisch zu legitimieren. Die faschistische und realsozialistische Verfolgungswut gegen alle „Nichtstuer“, also gegen alle „Arbeitsscheuen“, „Drückeberger“, „Müßiggänger“ und „Faulenzer“ zeigt das Widerstandspotential all derer, die zwar nicht wörtlich, aber in deutlich anti-staatlich-ideologischem Sinn eben „nichts“ tun.
Damit deutet sich an, daß Talleyrand mit seiner Maxime (und wer sie zustimmend zitiert) offenbar außenpolitische Handlungsalternativen in einer vergleichbaren Zwangslogik präsentieren will: man ist in einem Spiel gefangen, in dem man immer nur mitspielen kann. Jeder Zug gilt als ein Zug innerhalb des Spiels. Vielleicht gibt es aber gerade heute (wieder) gute Gründe, auch der Spielverderber-Position einen Ausweg, eine Exit-Option offenzuhalten. Sie wäre vermutlich nur zu beschreiben – und meinetwegen: nur „metaphysisch und politisch“ – als ein Nicht-Mittun durch „Nichts-Tun“.