Die Zeitung von gestern (9)

Chill mit Churchill (30.7.2017)

Der Sportteil der gestrigen Samstags-FAZ (29.7.) bringt – wie immer – auf der letzten Seite Christian Eichlers Doppelkolumne („Chapeau“/“Attaque“). Sie öffnet mit dem Zitat der Antwort, die Churchill angeblich einmal auf die Frage nach dem Grund seines hohen Alters (trotz Zigarre und Whisky) gegeben haben soll: „First of all, no sports“. Zwar hat Christoph Drösser 2005 in seiner „Stimmt´s?“-Reihe in der ZEIT behauptet, die nur im deutschen Sprachraum bekannte Äußerung sei „mit ziemlicher Sicherheit“  erfunden, nicht nur weil sie nicht nachweisbar ist, sondern weil sie kaum zu einem Mann passe, der zumindest in seiner Jugend „Fechter, Schütze, Reiter und Polospieler“ gewesen ist, wie wiederum die Wikipedia weiß. Daß es mit der historischen Authentizität der Langlebigkeitsgarantieformel nicht weit her ist, braucht allerdings den tieferen Sinn der Sport-Abstinenz nicht zu schmälern, den man gern der souveränen, unaufgeregten Gelassenheit des englischen Welt-Politikers zugeschrieben hätte. Eichler spielt in seiner Glosse in der Tat nicht auf den im Zitatzusammenhang gemeinten gesundheitlichen Benefit an, sondern nutzt das Kurz-Motto als Kontrast für das Gebaren heutiger Politiker, die meinen sich auch als Sportler in der Öffentlichkeit zeigen zu müssen: Putin, Trump und jüngst der 46-jährige kanadische Premierminister Justin Trudeau.

Man könnte sich in der Tat fragen, welchen Politikstil und insbesondere welche Vorstellung von seinem „Wahlvolk“ ein Politiker pflegt, der ihm auch in den Kleidungsstücken (bzw. ohne solche wie Putin) und mit den Ausrüstungsgegenständen des Sportlers gegenübertreten will. Nun ist sicher auch einmal das Szepter eines Kaisers oder Königs nichts als ein symbolisierter Schlagstock gewesen; trotzdem macht es einen Unterschied, wenn ein Regierender tatsächlich mit Boxhandschuhen oder im Wrestling-Ring auf- und antritt. Denn symbolische bzw. symbolisch darstellbare Zusammenhänge werden zu gefährlichen Realitäten, wenn sie den Bereich des Zeichenhaft-Symbolischen überschreiten. Gerade weil das Politische immer auch potentielle Gewaltwirkung und Gewaltbereitschaft bedeutet, könnten Politiker es sensiblerweise für angebracht halten, das, was ihr Beruf an Durchsetzungskraft, Stärke, Mut, Ausdauer usw. an den vielen konfliktreichen Verhandlungstischen unweigerlich von ihnen fordert, nicht auch noch in platter pseudo-sportlicher Realform öffentlich zu inszenieren. Die mediale Versportlichung von Politik führt gleichzeitig zu ihrer Verharmlosung und zu ihrer Brutalisierung.

Aber daß Churchills vermutliche Nicht-Aussage trotzdem ihren eigentlichen Sinn wieder auf dem Gebiet der lebensverlängernden Vermeidungsstrategien erhält, zeigt ein Artikel, den man zwei Sportteil-Seiten vorher findet: die Nachricht über das (sportliche) Karriereende des „vermutlich schlauesten Football-Profis“ John Urschel (26), der nun doch lieber seine offenbar vielversprechende akademische Laufbahn am MIT weiterverfolgt, wird unterfüttert mit medizinischen Untersuchungen, die Gehirnschäden als Folgen von Football- und Eishockeyspiel nachweisen (daß ein Eishockey-Puck auch sichtbare Körperschäden anrichtet, kann man schon länger wissen – und sehen). Der fachmännische Begriff der „Dementia pugilistica“ weist auf die Herkunft des Syndroms aus dem Boxring hin; beim Mannschaftssport genügen offenbar „die durch ständige Kollisionen ausgelösten subkonkussiven Schläge“ für Gehirnablagerungen der „lähmenden Substanz Tau“. Kann also der enge Zusammenhang zwischen Sport und Intelligenzmangel, den man als leidenschaftlicher Nichtsportler schon immer gern vermutet hat, nun als wissenschaftlich nachgewiesen gelten? Vermutlich nicht so ohne weiteres und nicht für alle Sportarten; trotzdem wird man die straffe Verzahnung von Sport und Ausbildung, wie sie an amerikanischen Universitäten mit ihren Football-, Basketball-, Baseballmannschaften betrieben wird, für eine nicht-nachahmenswerte Praxis halten; und man wird trotzdem die römische (und dann nationalsozialistische) Sentenz der „mens sana in …“ für eine nicht unbedingt zu sportlicher Betätigung zwingende Maxime halten, genauso wie man heutigen europäischen Studenten wünschen wird, daß sie sich „ständige Kollisionen“ und „subkonkussive Schläge“ nur ganz metaphorisch durch die harte gedankliche Auseinandersetzung mit komplizierten Texten, steilen Thesen und scharfer professoraler Kritik einfangen. „No sports“, in der Tat: aber nicht (nur) aus Trägheit, sondern weil „lähmende Substanzen“ im Gehirn sicher das sind, was wir über den nicht aufhaltbaren biologischen Verfall hinaus sicher am wenigsten brauchen. Oder besser: das, was wir uns im Bedarfsfall dann doch lieber selbstbestimmt und wohldosiert zuführen: mit Zigarren, Whisky und Zeitunglesen.

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Über Joachim Landkammer

Joachim Landkammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis der Zeppelin Universität.

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