Die Zeitung von gestern. Zu Simon Strauß‘ FAZ-Feuilleton-Glosse „Aufgepaßt“ vom 18.1.2021

Aude non audire

Die Tugend des gern gelobten „Zuhören-Könnens“ gilt als hoch korrekte zentrale Sozialkompetenz avancierter wokeness, aber gibt es auch eine veritable Pflicht zum Zuhören? Kommt darauf an, wird man sagen, und Situationen und Kontexte aufzählen, die je nach Art, Funktion und Absicht des Gesprächs und je nach Anzahl der an ihm Beteiligten jeweils Bejahung und Verneinung erlauben. Menschen, die fürs (genaue) Zuhören bezahlt werden (Therapeuten, Richter, polizeiliche Vernehmer, Beichtväter) und Dialogpartner in sozialen Kleinst- also diadischen Konstellationen („Hörst du mir eigentlich zu?“) wird man jedenfalls stärker in die Zuhör-Pflicht nehmen als etwa FernsehzuschauerInnen in der Werbepause, RadiohörerInnen im Auto, den Saaldiener im Gericht oder den Partygänger, der sicher ungestraft „mit einem Ohr“ immer auch bei den anderen Smalltalk-Stehgrüppchen sein darf. Aufmerksamkeit in der Form passiv-auditiver Kommunikationsbereitschaft ist vermutlich nur in Ausnahmefällen wirklich zu „erzwingen“, und nur selten moralisch sanktionierbar. Wahrscheinlich darum tritt sie oft zeitgleich mit Gewalt und Gewaltandrohung auf: wer unbedingt hellwache Zuhörer benötigt, läßt erstmal die Hand auf die Tischplatte krachen, bevor dann eben „fühlen muß“, wer „nicht hören will“, wie das Grunddogma schwarzer Pädagogik bekanntlich einst lautete. Wer dagegen mit Argumenten für das Zuhören-Müssen kämpft, muß sagen, warum der jeweilige Kontext ein solches Verhalten erzwingt, denn davon wird es abhängen, ob man die Zuwiderhandlung tatsächlich „eine Unart, eine Missachtung zwischenmenschlicher Umgangsformen“ nennen darf.

Mit genau diesem Vorwurf eröffnet der Theater-Kritiker der FAZ, Simon Strauß, eine kurze Feuilleton-Glosse mit dem Titel „Aufgepasst“, dem zum imperativischen Lehrer- (und Kasperltheater)-Kommando-Wort nur das Ausrufezeichen fehlt. Strauß´ Kontextualisierung und Präzisierung des Zuhör-Gebots vollzieht sich in schrittweisen Einengungen: zunächst scheint es um die „politische Debatte“ im Parlament zu gehen, dann um die dort anwesenden „Regierungspolitiker“, dann um deren Verhalten bei den „Redebeiträgen der Opposition“ – und zuletzt konkret um Robert Habeck, der bei einem „verächtlichen Wortbeitrag des AfD-Politikers Karsten Hilse von der Querdenker-Empore gelangweilt auf seinem Display herumtippte“. Die veranschaulichende Eskalierung des Arguments verdeckt, daß man auf jeder Konkretisierungs-Stufe „ja, aber…“ hätte sagen können: freilich lebt jede politische Debatte auch vom gegenseitigen Zuhören (aber geht es im Parlament, wie der Name sagt, nicht vor allem ums öffentliche Reden, dem weniger die Anwesenden als potentiell ein ganzes Land „zuhört“?), freilich hat in Demokratien die Regierung als handelnde Macht eine besondere Pflicht zum Zuhören, vor allem gegenüber den von der Handlungs-Macht derzeit Ausgeschlossenen (aber gilt das wirklich für jedwede Form von „Opposition“?), und freilich muß Habeck vielleicht auch einem gewählten Repräsentanten einer extremistischen Partei ernsthaft zuhören – aber könnte es nicht für ihn wie für das „Gemeinwohl“ trotzdem sinnvoller sein, sich auf seinem Handy z.B. über wissenschaftlich fundierte Analysen zur Wirtschaftspolitik zu informieren als sich auf das „verächtliche“ Geschimpfe eines Klima- und Corona-leugnenden Volksvertreters zu konzentrieren, gegen den übrigens ein Strafverfahren läuft und dessen parlamentarische Immunität vor wenigen Tagen aufgehoben wurde?

Nachdem schon die beflissene Diskussion über die Frage, ob und wie man „mit Rechten reden“ (Leo/Steinbeis/Zorn) soll, ziemlich wenig erbracht hat, darf hier auch die Frage, ob man ihnen zuhören muß, beiseitegelassen werden. Stattdessen mag uns hier ein abermaliger Kontextwechsel in eine uns vielleicht (noch) näher liegende Sphäre interessieren, die Strauß selbst andeutet, wenn er schreibt, Habeck habe sich benommen „wie ein arroganter Literaturwissenschaftler auf einer Tagung […], der nach seinem eigenen glänzenden Vortrag nur noch die Zeit absitzt und lustlos herumdaddelt, während seine drittklassigen Kollegen sprechen“. Nun eifrig zu bekennen, diese Arroganz kenne man aus eigener Anschauung und Erfahrung sehr gut, heißt peinlicherweise, sich selbst zu eben diesen ignorierten „Drittklassigen“ zu zählen und ist kaum durch die hämische Retourkutsche wieder gut zu machen, man habe selbst bei jenem „glänzenden Vortrag“ des akademischen Stars ja auch nicht zugehört, weil dieser nämlich meist in nichts anderem besteht als in wieder aufgewärmten Thesen und Formulierungen, die man aus den ebenso „glänzenden“ Schriften des Betreffenden ja längst kennt. Gleichwohl drängt sich bei wissenschaftlichen Tagungen wie bei Parlamentsdebatten die Frage auf, ob und auf welcher Grundlage diese inszenierten One-to-Many-Rede-und-Zuhör-Settings tatsächlich eine irgendwie einforderbare Zuhörpflicht implizieren, wo doch die bis in die Raumanordnung von Sprechern und Zuhörern deutlich gemachte Machtasymmetrie das Zuhören zum auferlegten Zwangsakt eines hauptsächlich als Aufmerksamkeits- und Beifall-Lieferant ge- und mißbrauchten „Auditoriums“ werden lassen (wie man ja durch Hinhören auf die Vokabeln „Hörigkeit“ und „Gehorsam“ gut hören kann). Nicht-Zuhören wäre dann also ein Widerstandsakt? Kann man mit den Ohren ähnlich implizit-subversiv negativ „abstimmen“ wie „mit den Füßen“?

Als acte de résistance wird ersichtliches Nicht-Zuhören sicher auch und gerade dort empfunden, wo die Situation die formale Fast-Gleichheit der Anwesenden suggeriert, also etwa bei Gremiensitzungen rund um einen gemeinsamen Tisch. Wer sich auch dort durch Beschäftigung mit Handy, Laptop oder gar einem Buch aus dem Gespräch ausklinkt (Niklas Luhmann soll während Senats- und Fakultätssitzungen immer Duns Scotus gelesen haben – und, ja, natürlich auf lateinisch), untergräbt stillschweigend die Legitimität des beratenden und entscheidenden Organs. Andererseits ist in der Pflicht zum (womöglich gar „gebannten“ oder „faszinierten“) Zuhören ein klares Totalitarismus-Merkmal wiederzuerkennen, das zusammen mit der damit eng verbundenen Pflicht zur Einstimmigkeit und zum ausdrücklichen „Mitmachen“ jedes Einzelnen den ersehnten monolithischen „Volkskörper“ zusammenschweißt und mobilisiert. Lebt Demokratie nicht hingegen vom Recht auf Weghören, auf Desinteresse, auf Nichtbeteiligung, auf selbstbestimmtes individuelles Gerade-Leider-Irgendwie-Anders-Beschäftigt-Sein (und sei es „nur noch ein Kapitelchen“)?

Aber Simon Strauß verfolgt andere, aristokratisch-kämpferische Ideale, er malt an den Horizont das männliche Duell zweier Kontrahenten, die sich vollkommen alert in die Augen sehen, eine Vorstellung, an der gemessen der sich über sein Handy (weg)duckende „pazifistisch gestimmte grüne Vizekanzler“ Habeck wenig „souverän wirkt“. Überhaupt geht es dem Theaterexperten Strauß ja offenbar vor allem um Wirkung, also um Schauwerte, und so wird am Ende der wahre „Großschauspieler“ daran erkenntlich gemacht, daß er nach seinem Monolog auch überzeugend „zuhören“ kann. Und soviel „Schauspielkunst“ könne man ja auch „von den Parlamentariern  schon verlangen“. Laut Strauß darf man sich also im Plenarsaal zwar nicht mit dem Handy beschäftigen, aber daß Interesse und Aufmerksamkeit möglichst geschickt simuliert wird, scheint der Würde des Hohen Hauses nicht zu widersprechen. Das erinnert an die Vorwürfe gegenüber Armin Laschet, dem man bei dem bekannten Vorfall im Ahrtal vorgehalten hat, er hätte doch wenigstens so tun können, als ob ihn die Ansprache von Bundespräsident Steinmeier interessieren würde. Da immer wieder, vor allem von populistischer Seite, in der Politik „Ehrlichkeit“ und „Authentizität“ eingeklagt wird, ist gegen die wichtige Einsicht, daß Öffentlichkeit und Theatralität zwingend zusammengehören – wogegen „Intimität“ zur „Tyrannei“ wird (R. Sennett) – nichts einzuwenden, die Frage bleibt aber, ob der Aufmerksamkeits-Fake wirklich zum Pflichtprogramm des „guten“ Politikers gehört: wie wäre es denn, wenn man Habeck zutrauen würde, daß er nur zum Schein abwesend „herumdaddelt“ und sich in Wirklichkeit keine einzige Silbe des wild herumschwadronierenden Kontrahenten entgehen läßt? Großes Theater, das weiß sicher auch Simon Strauß, ist es erst dann, wenn auch die Simulation (dis-)simuliert ist…

Einfache Aufmerksamkeits-Simulationskunst erster Ordnung gedeiht hingegen da, wo sie z.B. durch Handyverbot und strenge Sozialhierarchie erzwungen wird, also etwa in der Schule. In der Universität sind es heutzutage jedoch die Lehrenden, denen nicht zugehört wird und die im Seminar und Hör(!)-Saal ständig der Zumutung ausgesetzt sind, mit mehr oder weniger „ostentativ“ unbeteiligten Handy- und LaptopnutzerInnen konfrontiert zu sein. Soll man hier auf Zuhör-Pflichten insistieren oder von den Studierenden zumindest geschaupielertes Interesse einfordern? Wohl kaum; aber der nicht zuhörende Student zeigt immerhin, wann und warum Nicht-Zuhören wirklich „ärgerlich“ ist: wenn es nämlich grundlos die sanktionsfrei zur Verfügung stehende Option der Absenz ersetzt. Anders als für den Minister auf der Regierungsbank oder für das Dienststunden absitzende Gremienmitglied gibt es für den Studierenden keine Präsenzpflicht. Daraus zieht das sichtbare Nicht-Zuhören seine „Ostentativität“; wer im Hörsaal und Seminar deutlich nicht zuhört, scheint das aus dem einzigen Grund zu tun, das eigene Desinteresse provokativ zur Schau zu stellen – denn er könnte ja einfach von vornherein zu Hause bleiben.

Gegen Strauß ist also festzustellen: wenn überhaupt, wäre vermutlich hier moralische Entrüstung gegenüber Nicht-Zuhörenden angebracht. Wo hingegen die Alternative der Absenz nicht (so leicht) zugänglich ist, muß die Verweigerung des offenen Ohres als liberale Freiheits-Chance möglich bleiben. An der Universität jedoch wird man sich, vor einem in wenigen Tagen beginnenden Semester, das den Studierenden die Wahl zwischen Präsenz- oder Online-Teilnahme freistellen will, fragen müssen, warum man die Lehre belastet mit der Pflicht, auch noch die vollkommen unnötige Zusatz-Exit-Option der studentischen Zuhör-Simulation am heimischen Computer (mit abgestelltem Kamerabild und vermutlich stillgestelltem Ton) zur Verfügung zu stellen. Diese dringende Frage wäre an das Lehrmanagement zu richten. Aber es hört ja wahrscheinlich wieder keiner zu.

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Über Joachim Landkammer

Joachim Landkammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis der Zeppelin Universität.

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