Herbst 21: Schüchternheit

Blind Spot: Idiosynkrasie.

Eine hermeneutische Annäherung und eine Annäherung an die Hermeneutik


Kennenlernen

Silvia Bovenschen beschäftigt sich in ihrem Buch „Über-Empfindlichkeit – Spielformen der Idiosynkrasie“ mit dem Phänomen der Idioysynkrasie. In ihrer Betrachtung grenzt sie dieses Phänomen anhand der Darstellung anderer Autoren von weiteren ähnlichen oder artverwandten Phänomen ab, um ausgehend von dem Begriff des „Mischphänomens“ (S.9) eine eigene Definition der Idiosynkrasie zu wagen.

Dieser Reflexionstext beschränkt sich in seiner Betrachtung ausschließlich auf Bovenschens „Vorbemerkung“ (S.9f) und ihr einführendes Kapitel „Von eigentümlichen Mischungen – Bild, Nerv, Wort und Idiosynkrasie“ (S.11 – 41), um das hermeneutische Vorgehen der Autorin zur Einführung ihres Begriffs der Idiosynkrasie nachzuzeichnen[1] . Im besten Fall gelingt eine zusammenfassende Darstellung ihrer Wortdeutung.

Eine gute Grundlage für hermeneutische Darstellungen ist die etymologische Annäherung an die Wortherkunft des jeweiligen Begriffs. Bei der Betrachtung der Idiosynkrasie verweist Silvia Bovenschen direkt zu Beginn ihres Textes auf die Herkunft: Das griechische Wort ίδιοσύνκρασις heißt übersetzt „eigene oder eigentümliche Mischung“ – schon an dieser Stelle wird klar, dass eine hermeneutische und begriffsgeschichtliche Auseinandersetzung mit der Idiosynkrasie unumgänglich ist. Denn wenn zur Beschreibung eines Phänomens ein Wort aus ursprünglich drei Wörtern (ιδιο: eigen; συν: zusammen; κράσις: Mischung) gebildet wird und aus diesem Versuch der Verdeutlichung nur eine so uneindeutige Beschreibung wie „eigentümliche Mischung“ hervorgeht, muss es sich bei der Idiosynkrasie um ein Phänomen handeln, welches so schwierig zu fassen ist, dass es sich kaum abstrahieren lässt. Dies ist bei der Definition von wissenschaftlichen Fachbegriffen sicher kein seltenes Problem. Allerdings beschreibt die Idiosynkrasie im Gegensatz zu Ausdrücken, die nur von wissenschaftlichen Experten zur Beschreibung sehr spezifischer Phänomene ihres Fachgebiets benötigt werden, ein ganz alltägliches Phänomen, das wahrscheinlich jedem fühlenden Menschen vertraut sein müsste. Trotz dieser Vertrautheit lässt es nicht mit einem einzigen alltagssprachlichen Begriff allein beschreiben, sondern immer nur unter Zuhilfenahme der Begriffe für andere ähnliche Phänomene umreißen. Dies führt wiederum dazu, dass man die eigenen Idiosynkrasien kaum bewusst wahrnehmen kann, solange einem der Begriff zum Erfassen ebendieser fehlt. Vor dem Hintergrund dieser Problematik ist es demzufolge nur richtig von Silvia Bovenschen der Idiosynkrasie ein ganzes Buch zu widmen. Der Anspruch dieser Reflexion, den Begriff der Idiosynkrasie auf wenigen Seiten erklären zu wollen, erscheint dagegen geradezu vermessen. Es sollen daher nur einige wesentliche Aspekte von Bovenschens Abgrenzung herausgestrichen werden, um eine grobe Ahnung zu vermitteln, was mit Idiosynkrasie gemeint sein könnte.[2]

Annäherungsversuche

Silvia Bovenschen erklärt, dass grundsätzlich jede Wahrnehmung, die jemanden unvermittelt in „schrille Aufregung“ (S.11) versetzt, eine Idiosynkrasie sein könne. Sie nennt einige Beispiele; wichtig ist hier, dass es sich nicht nur um Abneigungen wie beispielsweise der gegen das „Buttermesser, mit dem man zuerst die Butter auf dem Brot verteilt hatte und dann helle Schlieren im Marmeladenglas zurückließ“ (S.11), sondern auch um explizite Vorlieben wie Schillers „libidinöse Reaktion“ (S. 20) auf den „Geruch von faulen Äpfeln“ (S.12) handeln kann.

Zur Veranschaulichung dieser Reaktionen zitiert sie Paul Valéry und erläutert, dass es bei der Idiosynkrasie nicht nur um die unwillkürliche Reaktion gegen einen wahrgenommenen Reiz gehe, sondern genauso um die Selbstwahrnehmung ebendieser Reaktion, die wiederum zu einer weiteren unwillkürlichen Reaktion führen könne (S.12f).

Aus der hermeneutischen Perspektive ist interessant, dass Bovenschen zur Erklärung dieses Phänomens schon darauf angewiesen ist, die Idiosynkrasie mit dem Begriff „Idiosynkrasie“ zu beschreiben (S.13):
Wenn nichts mehr an diesem Phänomen erklärbar scheint, werden wir uns selbst fremd, reagieren wir idiosynkratisch auf unsere Idiosynkrasien.
Festzuhalten ist hier, dass es bei der Idiosynkrasie immer um die Auseinandersetzung mit der eigenen, möglicherweise übertriebenen Reaktion auf eine scheinbar geringfügige Wahrnehmung geht (ebd.). Sie nimmt aber genau hier eine Abgrenzung zu anderen Phänomenen vor: Die Reaktion sei nicht so lähmend „wie etwa beim Schock, oder dem grellen Entsetzen, oder der schieren Angst, oder dem überwältigenden Ekel“ (ebd.). Sie beschreibt die Reaktion im Sinne Valérys als ein kurzes Erstarren (ebd.) und fügt mit einem Verweis auf Adorno und Horkheimer hinzu, dass dieses mit „unwillkürlichen Körperreaktionen“ (S.14) verbunden sein könne.

Daraufhin wird Silvia Bovenschen hermeneutisch aktiv und wagt eine erste Übersetzung der Idiosynkrasie mit dem zusammengesetzten deutschen Begriff „Reiz-Reaktion-Ensemble“ (S.15), was aber wohl als eine etwas wortmalerische Variante der „eigentümlichen Mischung“ aufgefasst werden muss.

Um das Phänomen der Idiosynkrasie weiter einzugrenzen, erklärt die Autorin Folgendes: „Die Struktur der Auslösung ist der Reaktion unangemessen“ (S.15) – hermeneutisch verdeutlicht sie diese Unangemessenheit mit dem Begriff „Kurzschluss“ (S.15). Weiter erläutert sie, dass ein solcher „Kurzschluss“ auch durch die Begegnung mit Menschen, insbesondere der ersten Begegnung mit einem anderen Menschen, hervorgerufen werden könne (S.16).

Solche Reaktionen auf andere Menschen könnten wiederrum „Verlegenheit“ (S.17) hervorrufen, welche das Suchen nach Gründen für ein Vorurteil verursachten, damit die unwillkürliche Abneigung vor der eigenen Vernunft gerechtfertigt werden könne; hier mit den Worten von Friedrich Nietzsche pointiert: „’Du hast eine Abneigung gegen ihn und bringst auch reiche Gründe für diese Abneigung vor – ich glaube aber nur deiner Abneigung und nicht deinen Gründen!’“ (S.17). Bovenschen streicht aber nochmal die entscheidende Unterscheidung für die Idiosynkrasie heraus: jene sei einfach willkürlich vorhanden (ihre genaue Bedeutung gilt es noch zu erörtern), während der „Mechanismus der nachträglichen Erschleichung eines Vernunftgrundes“ (S.17) gefährlich sei.

Um dieser Bedeutung näher zu kommen, zitiert die Autorin als nächstes Immanuel Kant, der dem Phänomen der Idiosynkrasie „das Zeugnis epistemologischer Unbrauchbarkeit“ (S.18) ausstelle und diese „in die Nachbarschaft zweifelhafter ‚Ahndungen‘“ (S.18) rücke. Mit diesem Zitat leitet sie erstmals zu Richard Rorty über, der die Kritik von Kant als Ausgangspunkt nimmt (S.19). Ebenfalls in Bezug zu Kant zitiert Bovenschen eine Abgrenzung von Jürgen Habermas, der das Idiosynkratische als Gegenbegriff zum Rationalen verwende (S.20); wobei nach seiner Definition als rational alles verstanden werden müsse, was sich in Bezug auf gesellschaftliche Wertstandards plausibel erklären lasse (S.20). Bovenschen verdeutlicht aber, dass eine rationale Erklärung – die Definition kann hier durch die Abgrenzung vom Rationalen nur rational erfolgen – der irrationalen Idiosynkrasie nicht gerecht werden könne.

Weiter bringt Bovenschen den Begriff der Identität in Verbindung mit der Idiosynkrasie. Wieder bezugnehmend auf Rorty zeigt sie, dass es einen Unterschied gebe zwischen „Hervorbringungen“ anderer Menschen (die Idiosynkrasie sei in seinem Sinne als Eigenart der Hervorbringung zu verstehen (S.22)), die Gemeinsamkeiten mit eigenen Erfahrungen aufweisen, und solchen, die diese Gemeinsamkeiten nicht aufweisen. Letztere könnten allerdings eben durch die Wahrnehmung der fehlenden Gemeinsamkeit dazu dienen, „,eines Menschen Sinn für Identität mit sich selbst zu dramatisieren und kristallisieren‘“ (S.24). Mit einem Verweis auf Walter Benjamin führt sie näher aus, was damit gemeint sein könnte: Die Identität eines Menschen werde für andere Menschen über dessen „,eigenen Ton‘“ (S.25), also dessen Eigenheiten, erfahrbar. „,Das Menschliche … in seinen Eigenheiten‘“ (S.25) nenne Benjamin hier „,die Idiosynkrasien‘“ (S.25). Die Idiosynkrasie sei demnach, wenn auch nicht direkt mitteilbar, für andere Menschen erfahrbar. Bovenschen nennt sie an dieser Stelle daher „wirkmächtig“ (S.26).

Anhand weiterer Zitate Benjamins möchte die Autorin schließlich den Zusammenhang zwischen Metaphern und der Idiosynkrasie ergründen. Der Untertitel „Bild, Nerv, Wort und Idiosynkrasie“ ihres ersten Kapitels ergibt sich aus Benjamins Metapher des „,Sprachblut[s]‘“ (S.26). Weiter zeigt sie, dass Eckhard Lobsien sogar der Metapher selbst ein idiosynkratisches Moment zuspreche (S.29). Dies lasse sich allerdings nicht für alle Metaphern verallgemeinern, sondern treffe nach Gerhard Kurz nur auf jene zu, die sich durch eine „,Simultanität von Geltung und Nichtgeltung‘“ (S.29) und eine „,individuelle kreative Veränderung des Sprachsystems‘“ (S.29) auszeichneten.

Als Aufhänger für den letzten Abschnitt des ersten Kapitels verwendet Bovenschen ein weiteres Beispiel für das zu untersuchende Phänomen: Theodor W. Adorno habe eine Idiosynkrasie gegen das Wort „Persönlichkeit“ verspürt (S.30). So kommt sie auf Adornos Begriff der „,sozialisierten Idiosynkrasien‘“ (S.31) und widerspricht, dass es „verallgemeinerte“ (S.31) Idiosynkrasien nicht geben könne. Vielmehr wäre für solche Phänomene der Begriff des Vorurteils zutreffend (S.31). Anhand dieser Differenzierung verdeutlich sie nochmal das willkürliche Auftreten von Idiosynkrasien: diese lassen sich nicht verallgemeinern, da sie keinerlei Regelmäßigkeiten folgen (S.32). Jedoch erfolge ihr Auftreten auch nicht zufällig oder beliebig (S.32), mehr noch überrasche die Idiosynkrasie die von ihr heimgesuchte Person selbst (S.33).
An dieser Stelle streicht sie den wichtigen Unterschied zum Phänomen des Ekels heraus: Es gebe eine „starke kulturelle Übereinkunft im Verhältnis zum Ekligen“ (S.33), die das Ekelhafte „,in Opposition zum Schönen‘“ (S.33) setze, und dem Betroffenen seine eigene Reaktion erklärbar bzw. erwartbar mache. Da sich die beiden Phänomene doch nicht eindeutig voneinander abgrenzen lassen, schlägt Bovenschen für die Idiosynkrasie die Beschreibung eines „unvorhersehbaren Spontanekels“ (S.34) vor.

Diese Beispiele sind für die hermeneutische Betrachtung notwendig, da sie aufzeigen, wie schwer der Begriff der Idiosynkrasie sich von anderen Phänomenen abgrenzen und definieren lässt. Bovenschen präsentiert ihr Zwischenfazit – „soviel lässt sich sagen: Idiosynkrasie ist ausgehaltene Ambivalenz“ (S.34) – nur um die Bedeutung des Aushaltens zu erläutern: Nur wenn die Idiosynkrasie als Idiosynkrasie ausgehalten [nicht hingenommen, nicht abgebaut, nicht aufgelöst, nicht abgetan – Anm. d. Verf.] werde, könne sie Idiosynkrasie sein (S.35).

Schließlich berichtet Bovenschen noch von einem Dialog zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud, um ein spezielles Beispiel für Idiosynkrasie zu geben. So sei nach Freud die Empörung der (kulturell entwickelten) Menschen gegen den Krieg eine idiosynkratische Reaktion (S.36). Mit der Interpretation dieser Aussage gibt Bovenschen einen entscheiden Hinweis zur hermeneutischen Betrachtung der Idiosynkrasie. Sie beschreibt die Ablehnung des Krieges als „vorbegriffliche, ja, ,organische‘ Empfindlichkeit“ (S.36), die jene Menschen „auf der Höhe der ,Kulturentwicklung‘“ (S.26) „jeder Überlegung vorgängig zu impulsiven, ja somatisch bestimmten Pazifisten“ (S.36) mache. Die Idiosynkrasie ist demzufolge selbst kein abstraktes Phänomen, sondern ein menschliches Instrument zur Erfassung abstrakter Phänomene. Hier wird klar, warum sie hermeneutisch so schwer zu fassen ist: Sie bedarf keiner Begrifflichkeit, weil sie von sich selbst aus im Stande ist das zu leisten, wozu es sonst Begriffe und Hermeneutik braucht.

 

Miteinander leben

Abschließend wird nach der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Beispielen und Erklärungen des zu untersuchenden Phänomens klar, dass sich die Idiosynkrasie nur an folgendem Muster identifizieren lässt: Sie wird nicht aktiv oder bewusst mitgeteilt. Genau hier lässt sich nun erkennen, welche Rolle der Hermeneutik zukommt: Für Dinge, die nicht kommuniziert werden, gibt es keine Begriffe. Wenn es keine Begriffe gibt, können diese Dinge gar nicht erst wahrgenommen werden, weil der gefühlte Reiz nicht interpretiert werden kann. Hermeneutik ist demzufolge also ein unverzichtbares Denkwerkzeug in zweierlei Hinsicht: der Begriffsdeutung und der Begriffsfindung.

Soviel zur Bedeutung der Hermeneutik im Allgemeinen. Im Speziellen, also hinsichtlich der Idiosynkrasie, stößt die Hermeneutik an ihre Grenzen. Sprache und Begriffe sind sehr wirkungsvolle Werkzeuge zur Auseinandersetzung mit abstrakten Zusammenhängen; somit bleibt die Hermeneutik auf dem Feld der Sprache unverzichtbar. Es darf dabei allerdings nicht vergessen werden, dass es neben der Sprache noch andere Möglichkeiten gibt, um Abstraktes erfahrbar zu machen. Die Idiosynkrasie stellt eine solche Möglichkeit dar. Es handelt sich hier um ein Phänomen, dass gänzlich ohne Sprache auskommt und damit der Hermeneutik nicht zugänglich ist. Bovenschens Text zeigt, dass sämtliche Deutungen und Erklärungen der zitierten Autoren und auch Bovenschens Text selbst nur als Annäherungsversuche verstanden werden können. Idiosynkrasie kann man nicht verstehen, man muss mit ihr leben.

_______________

[1] Da dieser Text im Rahmen eines Hermeneutik-Seminars an der Zeppelin Universität entstanden ist, steht die Hermeneutik im Zentrum der folgenden Betrachtungen. Die Untersuchung der hermeneutischen Vorgehensweise Bovenschens verfolgt dabei die Frage: Was versteht Silvia Bovenschen eigentlich unter dem Begriff Idiosynkrasie? Anhand des so beschriebenen Phänomens soll eine Auseinandersetzung mit der hermeneutischen Methode selbst erfolgen.

 

[2] Als ihm der Begriff der Idiosynkrasie zum ersten Mal unterkam, war der Verfasser dieser Zeilen davon überzeugt, dass seine Soziologie-Professorin sich den Begriff ausgedacht haben müsste, und hat in seinem gebrochenen Alt-Griechisch fälschlicherweise den Ausdruck „Eigenermächtigung“ zur übersetzenden Deutung herangezogen. Silvia Bovenschens Text hat ihn schließlich aufgeklärt.

 

Literaturverzeichnis

Bovenschen, S. (2007). Über-Empfindlichkeit – Spielformen der Idiosynkrasie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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