Die Oberfläche der „Empfindung“
Die „Empfindung“ von Ferdinand Hodler
Der Reihe nach schreiten vier Frauen in Ferdinand Hodlers (1853-1918) Gemälde „Empfindung“ (1909/10) tänzerisch in eine Richtung. In eleganter Pose sind ihre Blicke vom Betrachter abgewandt. Sie schauen stattdessen nach vorne in die Richtung ihrer jeweiligen Vorgängerin und doch knapp an dieser vorbei. Sie haben ihre Hände zum Oberkörper gerichtet, fast so, als hielten sie etwas eng bei sich. Möglicherweise ist es das blaue Tuch, das die Vierte ganz hinten in der Reihe in ihren Händen trägt: von der Brust ausgehend fällt es lang zu Boden und bedeckt dabei die intimen Bereiche ihres Körpers. Die Dritte scheint dieses Tuch schon um sich geworfen zu haben wie ein Kleid, das sie unterhalb ihrer Brust zusammenbindet. Die Zweite bedeckt zusätzlich ihre Schultern, während die Erste sich als selbstbewusste Trägerin ihres edlen Gewands zeigt.
Der Eindruck drängt sich auf, dass es sich bei den vier Frauen um ein- und dieselbe handelt. Die jeweils Hintere ist demnach im Begriff zu der zu werden, die sie in Gestalt ihrer Vorgängerin sein wird und die jeweils Vordere eine vollendete Version ihres vergangenen Selbst‘.
Parallelismus
Die Wiederholung von Motiv, Form, Farbe und Figur ist charakteristisch für Hodlers künstlerische Arbeit. Für ihn bestand die Aufgabe des Künstlers darin, „das ewige Element der Natur, die Schönheit, zum Ausdruck zu bringen“.[1] Unter dieser Schönheit verstand Hodler die der Natur innewohnende Ordnung, die sich in Wiederholung, Symmetrie und Rhythmik manifestiere und von der er glaubte, dass sie beim Betrachter ein Gefühl von Einheit hervorrufe. Hodler meinte, ein Weltgesetz von allgemeiner Gültigkeit erkannt zu haben, das er als Parallelismus bezeichnete:
„Mit der Richtigkeit oder Unrichtigkeit meines Parallelismus steht oder fällt mein Werk. Entweder ist der Parallelismus, wie ich ihn erkannt, umschrieben und angewandt habe, ein Weltgesetz von allgemeiner Gültigkeit und dann ist mein Werk von universeller Bedeutung; oder aber, ich habe mich geirrt und in diesem Falle ist mein Schaffen lauter Selbsttäuschung und Trug.“[2]
Die Zeitlichkeit(en) der „Empfindung“
Mag Hodlers „Empfindung“ ebenfalls ein Werk seines Parallelismus sein, weist es doch darüber hinaus: Das Gemälde enthält ein zeitliches Moment, das die Auflösung der von ihm ersehnten Einheit in eine offene Fluchtlinie enthält. Die vier Frauen schreiten tänzerisch voran, bald sind sie von der Bildfläche verschwunden und lassen die Betrachterin (welchen Betrachter?) allein zurück.
Aber es lässt sich noch ein weiteres zeitliches, dieses Mal paradoxes, Moment ausmachen, das sich aus der oben angeführten Überlegung, bei den Frauen handele es sich um ein- und dieselbe, ableitet. Denn möglicherweise geht die jeweils Vordere nicht nur im räumlichen Sinne voraus, sondern auch im zeitlichen und wirkt damit als Voraussetzung ihres vergangenen Selbst‘. Damit ließe sich in Hodlers Gemälde eine Bewegungslogik ausmachen, die Gilles Deleuze in Logik des Sinns (1969) als Paradox der Regression oder der unbegrenzten Wucherung bezeichnet: „Der Sinn“, heißt es darin, ist „die Sphäre, in die ich bereits eingeführt bin […]. Der Sinn ist immer vorausgesetzt, sobald ich zu reden beginne“[3] – an dieser Stelle ließe sich ergänzen: zu malen, zu tanzen, zu empfinden.
Dieser Sinn kann nach Deleuze immer nur nachträglich bezeichnet werden: „Das gegebene N1 verweist auf N2, das den Sinn von N1 bezeichnet, N2 auf N3 usw.“[4] Möglicherweise fragen die vier Frauen nach einem Ich, das sie nicht (mehr) in ihrem Inneren suchen. Stattdessen richten sie den Blick in die Zukunft, welche sich immerzu entzieht – der Blick führt daran vorbei – und zu der sie sich zugleich hinbewegen. So schreiten sie voran und wissen erst, wer sie waren, nachdem sie einen Schritt gegangen sind.
Flach erscheint das Gemälde
Öl auf Leinwand – warum eigentlich nicht Aquarell? Möglicherweise versucht Hodler sich an eben jenen Repräsentationstechniken festzuhalten, mit denen sich noch an so etwas wie absoluter Sinn, Ich oder Wahrheit klammern lässt; Kategorien, die im Begriff sind, sich aufzulösen.
Im Deleuzschen Sinne erscheint Hodlers „Empfindung“ dennoch an der Schwelle eines Wissens um die Verflachung. Das Gemälde spannt sich zweidimensional auf: der Hintergrund ist fast bis zur Oberkante einfarbig ausgefüllt, keine Schattierungen, die Räumlichkeit vermuten lassen. Nur die Frauen halten mit ihren noch körperlichen Gestalten dagegen und doch umgeben sie sich mit der flachen Textur des blauen Tuchs. Dem Titel des Gemäldes nach empfinden die vier Frauen zwar, dennoch verlieren sie sich nicht in Gesten des Versenkens. Stattdessen vollziehen sie, mit Deleuze gesprochen, „seitliche[] Gleitbewegungen von links nach rechts und von recht nach links“.[5]
„Die Tiere der Tiefen werden nebensächlich und machen den außerordentlich schmalen Kartenfiguren Platz“, heißt es letztlich bei Gilles Deleuze. „Tief hat aufgehört, ein Kompliment zu sein.“[6]
Anmerkung: Ferdinand Hodlers „Empfindung“ ist noch bis zum 17. Januar 2022 in der Ausstellung „Ferdinand Hodler und die Berliner Moderne“ in der Berlinischen Galerie zu sehen.
[1] Hodler, Ferdinand (1897), zit. nach Hodler//Parallelismus. 14.09.2018 – 13.01.2019. Ausstellungsbroschüre Kunstmuseum Bern, 2018.
[2] Ebd.
[3] Deleuze, Gilles (2017): Logik des Sinns. Aesthetica. 8. Aufl., Frankfurt/M: Suhrkamp Verlag, S. 48.
[4] Ebd.
[5] Ebd., S. 25.
[6] Ebd.
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