Adventskalender 2022. Die neunte Stunde: 8:01 – 9:00 Uhr.

Neun Ausblicke, die Sie zur neunten Stunde nicht verpassen sollten.

Drei Tage die Woche sitze ich zur neunten Stunde im Zug. Im RE16, meist pünktlich, von Weimar nach Halle. Das könnte schnell eine eintönige Angelegenheit werden, ließe sich nicht beim Blick aus dem Fenster viel Aufregendes entdecken. Neun Ausblicke, die Sie auf dem Weg durch Ilm- und Saaletal nicht verpassen sollten.    

 

 

Der erste Schriftsteller Deutschlands

Nicht weit hinter Weimar zieht Gut Oßmannstedt vorbei. 1757 bis 1762 vom damaligen Premierminister des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach, dem Reichsgrafen Heinrich von Bünau, erbaut, lebte von 1797 bis 1803 Christoph Martin Wieland auf dem Gut. Dem Namensgeber ist seit September eine neue Dauerausstellung gewidmet: „Der erste Schriftsteller Deutschlands“. Auf der Webseite wird „ein ganz neues Erlebnis für alle Freunde der Weimarer Klassik“ versprochen. Nun gut.

 

Das Weltbad für Zukunft und Gesundheit

Einige erinnern sich vielleicht an die EXPO 2000 in Hannover. Weniger bekannt ist, dass anlässlich der EXPO 280 dezentrale Projekte in ganz Deutschland entstanden, die „durch konkrete, ebenso anschauliche wie erlebbare“ Ideen „nachhaltige Lösungsmuster für gegenwärtige Probleme“ aufzeigen sollten. Eins davon: der 30 Millionen Mark teure Neubau der Toskana-Therme in Bad Sulza: „Liquid Sound® hat daraus ein Erlebnis für menschliche Badegäste gemacht, dafür wurde ein Tempel gebaut, der dem Unterwasserhören gewidmet und mit farbigem Licht illuminiert ist. Zeitgemäße Badekultur. Täglich wird traumhafte Musik gespielt, zur Inspiration, zur Entspannung, zum Abtauchen.“ Und das Konzept scheint Zukunft zu haben, inzwischen gibt es weitere Thermen in Bad Schandau und Bad Orb und bei Interesse bietet die toskanaworld consulting „Kompetenz zur Weichenstellung im Bäderbereich“.

 

Die Kopie 

Sollten Sie die Therme besuchen, wartet ein weiteres Highlight direkt unterhalb des Bads auf Sie: Goethes Gartenhaus. Goethe kaufte das „Garten-Hause, nebst allen, was darinnen Erd-, Wand-, Band-, Nied- und Nagelfest ist“ 1776 laut Kaufvertrag für „600 Taler in zwei Raten zu je 300 Talern“. Das Original steht natürlich im Ilmpark in Weimar, aber bis dort sind es von der Therme immerhin gut 28 Kilometer. Da muss die 1:1 Kopie reichen, die im Rahmen von „Weimar 99 – Kulturhauptstadt Europas“ als Kunstprojekt entstand.

 

Die Brücken-Baustelle

Ein Pfeiler steht schon, die Baustelle durchschneidet die Hänge des Saaletals bei Bad Kösen. Wenn die 730 Meter lange Brücke in ein paar Jahren fertiggestellt ist, wird man von 60 Metern Höhe die hügelige Landschaft bewundern können, durch die sich die Saale schlängelt. Ziel des Brückenbaus ist eine Entlastung des Ortskerns von Bad Kösen, denn eine „OU [Ortsumgehung, Anm. d. Verf.] ist insbesondere durch den Kurstatus von Bad Kösen dringend erforderlich“. Und auch wenn das Vorhaben mehrere „UFR [Unzerschnitte Funktionsräume] schneidet“ und die „Trassierung vollständig in einem Naturpark“ liegt, sind unter Berücksichtigung von Maßnahmen zur Schadensbegrenzung im „Ergebnis der vorliegenden FFH-Verträglichkeitsprüfung [Flora-Fauna-Habitat, Anm. d. Verf.] keine erheblichen Beeinträchtigungen von Erhaltungszielen dieser FFH-Gebiete und damit der Kohärenz des Netzes Natura 2000 zu erwarten.“

 

 

Die zwei ungleichen Burgen 

Der kitschige Mittelpunkt der Fahrt naht, die beiden Burgen in Saaleck: Rudelsburg und Burg Saaleck. Ein Muss für alle Mittelalterfans. Und wenn Sie etwas mehr Zeit mitbringen, dann rufen besonders authentische Mittelaltererlebnisse wie die Fackelwanderung oder das beliebte Rittermahl auf der Rudelsburg: „Seid gegrüßt Mägde und Knappen und nehmet Platz an einer reich gedeckten Tafel. Tauchet ein in die Zeit der Ritter und Burgfräulein. Für ein paar Taler mehr wird euch ein Herold in die Sitten der Rittersleut einweisen. Wenn es euer Wunsch sei, dann trinket doch vom schäumenden Gerstensaft oder dem goldenen Weine soviel wie euch behaget.“

 

 

Die Stadt der Kuscheltiere

Eine kurze Zeit fährt der Zug direkt an der Saale entlang, das Flussufer spiegelt sich in der glatten Oberfläche. Dann Halt im Heilbad Bad Kösen – „Romanik, Sole und Wein“ und Heimat der Kösener Spielzeug Manufaktur. 1912 von Käthe Kruse eröffnet, wurden hier lange Zeit die deutschlandweit nachgefragten Käthe-Kruse-Puppen gefertigt. Und auch hier hat man verstanden, dass einzig das Erlebnis zählt. Sie können Ihr eigenes Plüschtier basteln und dabei Ihre „Feinmotorik schulen“, in der Erlebniswelt den „Alltagsstress hinter sich lassen“, wenn Sie „in eine fantastische Welt aus historischer Manufaktur und beeindruckender Plüschtierkunst eintauchen“ oder besuchen Sie doch Bad Kösen zum „Kuschelwochenende“, mit Übernachtung im Ringhotel „Mutiger Ritter“. Bei so viel Plüsch und Flausch übersieht man glatt die markante Leerstelle auf der Webseite zur Firmengeschichte; in den 1930er Jahren warb Käthe Kruse: „Das deutsche Kind, aktueller als je“.

 

Die Toskana des Ostens

Nicht nur die Therme trägt die Toskana im Namen, gleich die ganze Region ist bekannt als Toskana des Ostens. Eine geniale Idee der lokalen Tourismusverbände, ist die Toskana doch der mit Abstand größte Sehnsuchtsort, nicht nur von Goethe. Und die zerklüfteten Abbruchkanten gelblichen Muschelkalks, die steilen Saale-Weinberge, die Vielzahl erhabener Burgen, die vereinzelten Dörfer und das milde Klima lassen erahnen, warum wohl Max Klinger als erster diesen Vergleich zog.

 

Der Streit

Schon aus der Ferne sieht man die Türme des Naumburger Doms, die jetzt schnell näherkommen. Als eines der bedeutendsten Kulturdenkmäler des europäischen Hochmittelalters trägt der Dom seit Juni 2018 den Titel UNESCO-Welterbe. Aber jetzt gibt es Streit. Im Rahmen des Projekts „Triegel trifft Cranach“ gestaltete der Leipziger Künstler Michal Triegel seit 2019 eine neue Mitteltafel sowie zwei Predellen für das 1519 von Lucas Cranach d. Ä. für den Marienaltar im Westchor geschaffene Altarretabel. Das Mittelteil war 1541 im Zuge der Auseinandersetzung in der Reformationszeit zerstört worden. Von der Kritik und von den Besuchern hoch gelobt, ist das am 3. Juli 2022 geweihte vervollständigte Altarretabel der UNESCO ein Dorn im Auge. Der Welterbetitel ist in Gefahr, die neue Mitteltafel sei zu modern und der Altar störe die Sichtachsen auf die zwölf Stifterfiguren im Westchor. Erst schien es so, als setze sich die UNESCO durch, der Altar wird im Dom vorerst nur bis zum 4. Dezember gezeigt und reist anschließend ins Diözesanmuseum in Paderborn. Doch das nächste Kapitel des Streits wird bereits geschrieben, am 24. November 2022 diskutierten in der Marienkirche am Dom Expert*innen im Rahmen des Kolloquiums „Kirchliche Nutzung und Denkmalpflege – ein Gegensatz?“ über das Triegel-Cranach-Retabel.

 

 

Die Raffinerie

Hinter Naumburg verlässt der Zug die Thüringer Toskana und nimmt Fahrt auf in Richtung Halle. Doch bevor wir dort ankommen, schweift der Blick über eine ausgedehnte Industrielandschaft. Wie riesige Klettergerüste türmen sich die Rohre und Fackeln der Raffinerie Leuna rechts und links der Strecke übereinander, bis in den Zug dringen die Gerüche der Industrie. Hier werden aus gut 12 Millionen Tonnen Rohöl jährlich 3 Millionen Tonnen Benzin und Diesel produziert, mit denen 1300 Tankstellen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen mit Kraftstoff versorgt werden. Jahrelang kam ein Großteil des Rohöls aus Russland, seit dem 5. Dezember kommt dank des EU-Embargos durch die Pipelines nur noch nicht-russisches Rohöl in Leuna an. So meistert der Industriestandort Leunawerke eine weitere Krise seiner über 100-jährigen Geschichte. Auf dem Weg in ein postfossiles Zeitalter wird die nächste Herausforderung nicht lange auf sich warten lassen.

 

 

 

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Über Julian Stahl

Julian Stahl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Kulturstiftung des Bundes mit dem Schwerpunkt „Digitalität als Kulturpraxis“.

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