Adventskalender 2022. Die dreizehnte Stunde: 12:01 – 13:00 Uhr.

Mittagstisch

12:01 Uhr – Die Mensa der Zeppelin Universität verkauft ihre zweiten und dritten Mahlzeiten.

12:30 Uhr – Der Ansturm wächst, mehr Leute drängeln sich in der mittlerweile existierenden Schlange nach vorne, um ihre Essensbestellung einzulösen. Es werden mehr Mahlzeiten verkauft.

 

Mahlzeit?  „Mahlzeit“ wird sich zu gemurmelt, bevor sich der Mahlzeit zugewendet wird. Aus verschiedenen Seminaren strömen bestehende oder sich gerade findende Gruppen, die sich an verschiedenen Tischen wieder sammeln oder gänzlich neu zusammenfinden. Unter den nach Mahlzeit Suchenden finden sich zwei Personen, die zufällig an einem Tisch landen, sich zunicken, sich setzen, ihre Teller auf den Tisch stellen.

 

M:“Mahlzeit!“ „Mahlzeit“ erwidert Georg.

G:“Weißt du Michel? Ich habe gestern etwas über Mahlzeit geschrieben.“

M: „Über Mahlzeit? Ey Mensch, jetzt hör doch auf mir nachzuschreiben. Mein Entwurf über die Rattenmahlzeit ist doch letzte Woche fertig geworden. Und jetzt folgen auf jeden Fall noch die Satyrn-, Löwen-, Athleten-, Mond-, Insekten, Salat-, Satiren-, Kastanien- und Heuchlermahlzeit. Hättest du dir nicht was anderes suchen können? Irgendwas über Städte geht doch immer.“

G: „Rattenmahlzeit? Ernsthaft? Ich dachte wir reden über soziale Mahlzeiten …Im ganzen mittelalterlichen Gildenwesen ist das gemeinsame Essen und Trinken ein Punkt von so vitaler Wichtigkeit, wie wir es heute gar nicht mehr nachfühlen können“ (Simmel 1910).

G: „Die Gemeinsamkeit des Mahles aber führt sogleich zeitliche Regelmäßigkeit herbei, denn nur zu vorbestimmter Stunde kann ein Kreis sich zusammenfinden – die erste Überwindung des Naturalismus des Essens“ (ebd.).

M: „Mahlzeiten sind für dich folglich an konkrete Uhrzeiten gekoppelt? “

G: „Mensch Michel, das ist doch überhaupt nicht der Punkt.“

G: „Von allem nun, was den Menschen gemeinsam ist, ist das Gemeinsamste: dass sie essen und trinken müssen.“ (Simmel 2010)

M: „Georg, das ist aber schon ziemlich reduktionistisch.“

G: „Jetzt halt doch mal kurz die Luft an, Michel. Die Mahlzeit…. du hast mich jetzt völlig unterbrochen…: Und gerade dieses ist eigentümlicherweise das Egoistischste, am unbedingtesten und unmittelbarsten auf das Individuum Beschränkte: was ich denke, kann ich andere wissen lassen; was ich sehe, kann ich sie sehen lassen; was ich rede, können Hunderte hören – aber was der einzelne isst, kann unter keinen Umständen ein anderer essen“ (Simmel 1910).

M: „Was ein Quatsch Georg. Das erscheint mir nicht wirklich plausibel. Hol dir doch lieber die Mahlzeit und schau mal was da passiert, anstatt sie so willkürlich zu dem sozialen Ereignis schlechthin zu küren!“

G: „Ach ja? Und dann schreibe ich über Ratten- und Salatmahlzeiten? Toll.“

M: „Naja: Parasit sein heißt: bei jemandem speisen. Gehen wir von diesem wörtlichen Sinne aus. Die Landratte wird von ihrer städtischen Genossin eingeladen, die Stadtratte bietet ihr ein Mahl. Das Wesentliche, wird man sagen, ist ihr Verhältnis, Ähnlichkeit oder Unterschied. Doch das ist nicht genug, war nie genug. Die Beziehung des Eingeladenseins ist schon bald nicht mehr einfach. Geben oder Nehmen, auf Tischtuch oder Teppich, gehen durch eine Black-Box hindurch. Ich weiß nicht was da vorgeht, doch funktioniert es so schnell wie ein Gleichrichter. Austausch findet nicht statt und wird niemals stattfinden. Der Mißbrauch erscheint noch vor dem Brauch, man wird sagen müssen: Mißbräuche und Gebräuche“ (Serres 1981).

G: (zweifelnd) „Mahlzeit ist für dich also immer von vornherein Missbrauch und parasitär? Essen an sich ist das Egoistische, da stimme ich zu, aber spannend ist doch erstmal herauszuarbeiten, wieso das Egoistische vergemeinschaftet ist. Wieso den dritten einladen, wenn er parasitär ist?“

M: „Georg, du übersiehst den ganzen Punkt. Ich weiß wirklich nicht wie viel Sinn das noch hat, dir hier meinen Text vorzustellen. Vielleicht liest du ihn erstmal und dann reden wir Dienstag im Theoriekolloquium.“

G: „So schnell kannst du dich jetzt hier aber nicht rauswinden. Ich verstehe es ehrlich gesagt einfach noch nicht. Ich würde halt sagen:

Indem aber dieses primitiv Physiologische ein absolut allgemein Menschliches ist, wird es gerade zum Inhalt gemeinsamer Aktionen, das soziologische Gebilde der Mahlzeit entsteht, das gerade an die exklusive Selbstsucht des Essens eine Häufigkeit des Zusammenseins, eine Gewöhnung an das Vereinigtsein knüpft, wie sie durch höher gelegene und geistige Veranlassungen nur selten erreichbar ist. Erst das christliche Abendmahl, das das Brot mit dem Leibe Christi identifiziert, hat auf dem Boden dieser Mystik die wirkliche Identität auch des Verzehrten und damit eine ganz einzige Verknüpfungsart unter den Teilhabenden geschaffen.

Denn hier, wo nicht jeder ein dem andern versagtes Stück des Ganzen zu sich nimmt, sondern ein jeder das Ganze in seiner geheimnisvollen, jedem gleichmäßig zuteil werdenden Ungeteiltheit, ist das egoistisch Ausschließende jedes Essens am vollständigsten überwunden“ (Simmel 1910).

 

M: „Georg, …“

G: “ Warte mal kurz, ich bin noch nicht ganz fertig.“

M: „Darf ich vielleicht auch nochmal was sagen?“

G: „… ein Beispiel noch wieso ich den Parasiten erstmal rauslassen würde, Michel, wenn wir über Mahlzeiten reden…“

M: „Aber ich will doch über den Parasiten sprechen!?“

G: „… So bestimmt die Cambridge Guild im elften Jahrhundert eine hohe Strafe für den, der mit dem Mörder eines Gildebruders isst und trinkt; so verordnet das Wiener Konzil von 1267 in seiner stark gegen die Juden gerichteten Tendenz noch besonders, dass Christen mit ihnen keine Gemeinschaft der Tafel haben sollten; so ist in Indien die Befleckung durch gemeinsames Essen mit einem der Kaste nach Niederen von gelegentlich tödlichen Folgen! Der Hindu speist oft allein, um ganz sicher zu sein, dass er keinen verbotenen Tischgenossen hat“ (Simmel 1910).

M: „Man kann die Liste der Schläge nennen, die dem menschlichen Narzißmuss beigebracht wurden. Daß der Mittelpunkt der Welt von der Erde in die Sonne verlagert wurde, ist ein objektiver Schlag. Daß die kopernikanische Revolution auch in den Verstand, in die klare oder schattenreiche Seele, in die Arbeit und die Ökonomie übertragen wurde, dieser dreifache Schlag ist subjektiv. Unser wichtigstes Objekt rückt aus dem Zentrum heraus, das Subjekt rückt ebenfalls aus dem Mittelpunkt, und dies gleich dreifach. Die Philosophie ist nie aus dem Verhältnis von Subjekt und Objekt herausgekommen. Das parasitäre Verhältnis ist intersubjektiv. Es ist das Atom unserer Beziehungen. Machen wir den Versuch, dem ins Auge zu blicken, wie dem Tod und der Sonne. Dieser Schlag trifft uns alle gemeinsam“ (Serres 1981).

 

12:59 Uhr

 

M: „Der eine Parasit ist für die wachsende Komplexität des Systems verantwortlich, der andere unterdrückt sie…“

G:“ ….“ (setzt an zur Gegenrede)

M: „Georg, merkst du jetzt, dass es mir gar nicht um die Mahlzeit ging?“

G: „Ja, dann beschreibe doch genau und präzise, das was du sagen willst. Es geht dir ja offensichtlich um die Komplexität der Systeme, ihre Entstehung und Entwicklung…“

M: (nicht zustimmend)

G:“Dann brauchst du die Ratte und Mahlzeit als Metapher nicht. Lass die Metaphern doch raus.“

M: „Also da muss ich nun wirklich widersprechen. Ich meine beweisen zu können, dass doch alle Begriffe metaphorisch aufgeladen sind. Zu glauben, exakte und nicht-metaphorische Sprache ….“

 

13:01 Uhr

 

Literatur:

Simmel, G. (Oktober 1910). Soziologie der Mahlzeit. Der Zeitgeist, Beiblatt zum Berliner Tageblatt Nr. 41.

Serres, M. (1981). Der Parasit. Suhrkamp Taschenbuch Verlag. S. 11 – 30.

Quatsch, Z. (2022). Ausgedacht. S.23-50.

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