Adventskalender 2022. Die achte Stunde: 7:01 – 8:00 Uhr.

Unaufhaltsam: ´tis strucken eight

Meine Mutter, die sich um ein oft renovierungsbedürftiges Gebäude kümmert, sagt: „ab 7:00 können die Handwerker kommen, dann ist Schluss mit Privatsphäre“. Mein Vater gibt an, um 8:00 sei er mit dem Frühstück fertig – es geht los, der Arbeitstag startet, Joy to your labors, er fährt ins Büro – Have a good day in the city today! Zur achten Stunde bin ich meist traurig, dass die Nacht vorbei ist, Raum der Unbestimmtheit, und werde zugleich rastlos. Rastlos entstand auch dieser Text, zur achten Stund, kurz vor dem Aufbruch zur Arbeit – Less than an hour by train!

Die Uhren beginnen merklich zu ticken, die Zeit zu rennen. Diese Stunde ist getrieben, gleichzeitig schepp und zerknirscht, was im Vorspiel Mornin‘ Sun der einaktigen Oper Leonard Bernsteins Trouble in Tahiti wunderbar zum Ausdruck kommt. Bernstein verhöhnt den Morgen in Ges-Dur: Schon in Takt drei ist der Einsatz der Bläser ein Kollabieren, dicht gefolgt vom etwas schrägen Einsetzen der Sänger*innen im „dance-band“-Style. Bernstein hat sie in der Partitur instruiert, bitte „nasally“ zu singen. Dann nimmt das Ensemble Fahrt auf, ist auf Spur gesetzt und bleibt im Takt, es ist jetzt Tag – Day, Day, Day!

Spätestens ab 8:00 gibt es unumgänglich Vergangenheit und Zukunft, es ist meist auch schon hell. Sonnenuhren zeigen nun die Uhrzeit an. Der Schatten des Zeigers schiebt sich unerbittlich voran, unterteilt den Tag in Zeit, die nicht mehr zur Verfügung steht und Zeit, die noch genutzt werden will. Die Gegenwart aber liegt im Schatten verborgen. Es gibt nun nur noch Vergangenheit, die immer mehr wird, und Zukunft, die immer weniger wird. Alexander Demandt zitiert das dazu passende Gedicht von Lukian (Saturnalia 17):

 

„Ungerechte Sonnenuhr!
Hellen Schein genießen nur
Zukunft und Vergangenheit,
da durch dich die Gegenwart
stets im Schattenreich verharrt.
So verteilst du Licht auf Zeit!“[1]

 

Die Nacht hat keine Zukunft, sie hat nur Gegenwart. Ihre Zeit ist still und biegsam, sie kann verdreht und verknotet werden: Man geht durch das Looking Glass, begegnet Wiedergängern, schmuggelt Wahrheit über die Grenze der Vernunft des Arbeitstages und spürt die größte Entfernung von der Realität.

Zur achten Stunde aber ist der Spuk vorbei, ist die Verwandlung abgeschlossen. Es muss dann mit der- oder demjenigen gearbeitet werden, der aufwacht (– ob er nun einen Eselskopf hat oder nicht; man wacht auf, verliebt sich in das, was halt da ist). Die Zeit hat den Aggregatzustand gewechselt, es findet eine Verfestigung statt und die Dinge bekommen eine Richtung. Aus der ungerichteten Gegenwart der Nacht wird die rastlose Verhandlung zwischen vergangener und bevorstehender Zeit, anhand derer ich mich durch den Tag bewege: Ein Umschlagen vom Erleben ins Verhandeln, vom Modus privat in den Modus öffentlich und vom Wald in die Stadt.

Uhren sind ein Ding der Stadt. There’s no clock in the forest (Orlando in As you like it Akt 3, Szene 2). Turmuhren gab es in Westeuropa seit Ende des 14. Jahrhunderts in den Städten, um die Wende zum 17. Jahrhundert wuchs ihre Verbreitung stark[2]. Zu Shakespeares Zeiten muss ihr Schlagen dann überall in den Städten zu hören gewesen sein. Die Uhren wanderten plötzlich auch in die Haushalte und Taschen. Das fand nicht jeder gut und die Uhrmacher zogen für ihr Werk einigen Hass auf sich, wie Neil MacGregor anhand einer Reihe feindseliger „Klageschriften“ zeigt, die Ende des 16. Jahrhunderts in London an Kirchentüren genagelt wurden[3].

Bei Shakespeare spielt Zeit fast immer eine Rolle (an einer Stelle tut sie dies sogar ganz buchstäblich, als sie nämlich in Akt 4, Szene 1 von The Winter’s Tale als Chorus auf die Bühne marschiert) und Zeitangaben werden niemals zufällig gemacht. Die Morgenstunde, in der es hell wird, ist im shakespeareschen Drama ein besonders unheilvoller, rastloser Moment:

  • Am dritten Tag der Geschichte Romeos und Julias (Akt 2 Szene 3), erfährt Julia am Morgen, dass sie einen anderen heiraten soll und besorgt sich Gift, mit dem sie ihren Tod vortäuschen wird. Am nächsten Morgen (Akt 5, Szene 1) erreicht Romeo in Mantua die Nachricht von Julias Tod und er eilt verzweifelt zu ihr. Dabei verpasst er den Brief, der ihn über den Trick mit dem Gift aufklären sollte.
  • Trotz der Bedenken Calpurnias verlässt Julius Caesar morgens sein Haus und macht sich auf den Weg zum Kapitol, wo er seine eigene Krönung erwartet. Alles Verschwörerische fand in der Nacht statt. Ab jetzt gibt es kein Zurück. Auf dem Kapitol empfängt ihn Brutus: Caesar, ’tis strucken eight (Akt 2 Szene 2). Damit ist sein Todesurteil gesprochen.
  • Es beginnt ein ereignisreicher Tag, als Lady Macbeth morgens den Brief ihres Mannes liest, der den Besuch König Duncans ankündigt und daraufhin einen grausamen Entschluss fasst: Come, you spirits That tend on mortal thoughts, unsex me here, And fill me from the crown to the toe top-full Of direst cruelty (Akt 1,Szene 5). Ziemlich genau einen Tag später, als Macduff seinen König wecken will, muss er dessen Tod feststellen: Confusion now hath made his masterpiece (Akt 2, Szene 3).

Womöglich hat der drohende Charakter dieser morgendlichen Stunde, in der die Zeit eine Richtung bekommt, auch mit dem zu Shakespeares Lebzeiten durch das immer deutlichere Ticken und Schlagen der Uhren zunehmenden Bewusstsein zu tun, dass das Maß der Stunden und Minuten und die Verhandlung zwischen Vergangenheit und Zukunft nun den Tag bestimmen.

Die achte Stunde ist einfach bedrängend. Man wird rausgeschmissen aus der Gegenwart der Nacht, spürt die Beschleunigung der Zeit und ahnt: Das wird eine knappe Kiste mit dem Gift, im Kapitol erwartet einen nichts Gutes und irgendeiner wird sich heute völlig damit übernehmen, den König um die Ecke zu bringen.

Das scheint auch Health-Guru Gwyneth Paltrow zu wissen, die daraus den Schluss zieht, dass man sich morgens am besten selbst belügt. In einem Frühstückszubereitungs-Video mischt sie ein Vitaminpulver mit Wasser und spricht zu sich: Shake it up, so my brain thinks I am having a morning martini (8:28). Sie listet auch auf, was sie wann an einem Arbeitstag leistet, fragt sich dann does that seem like a lot to do? (4:53) und behauptet I don’t know – was ich ihr nicht glaube. Aber ich kann verstehen, dass sie sich morgens diese Antwort gibt. Der Wahrheit ins Auge zu blicken wäre viel verlangt. Denn das, was sie und viele andere an einem normalen Tag ab 7:01 Uhr erwartet, is a lot – und die Zeit läuft schon.

Quellen:

[1] Demandt, Alexander (2015): Zeit – Eine Kulturgeschichte. Propyläen Verlag, Berlin, S. 103.

[2] Bieber, Hans Joachim (2002): Zeitwahrnehmung, Zeitmuster, Zeitpolitik und die Erfahrung von Beschleunigungs- und Wachstumsgrenzen seit der industriellen Revolution. In: Die Zeit im Wandel der Zeit, Hg. Hans-Joachim Bieber et al, Kassel University Press. S. 192.

[3] MacGregor, Neil (2013): Shakespeares ruhelose Welt. C.H.Beck, S.239.

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Über Sophie von Waitz

Sophie von Waitz promoviert in politischer Theorie an der LMU, ist Mitglied im Forschungsprojekt Re-Präsentation. Neue Formen der politischen Ansprache und Fürsprache der Gerda-Henkel-Stiftung und lebt in Berlin.

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