High Noon. Carl Foreman, Fred Zinneman, Stanley Kramer Productions, USA 1952
nach John Cunningham, The Tin Star, 1947
Will Kane, ein deutlich dem Alter anheimfallender, abgearbeiteter Mann, »grauhaarig und etwas hüftsteif« (Rustemeyer 2013, 342) – in Cunninghams Erzählung, die alle privaten Umständlichkeiten des Films weglässt, ohne High-Noon-Krisis auskommt und stattdessen gegen drei Uhr nachmittags kulminiert, heißt er wie in Foremans Drehbuch vornamenlos Doane und ist ein beständig seine schmerzenden arthritischen Hände knetender Witwer, der demissionieren muss, weil er keinen Colt mehr halten kann –, Will Kane also verheiratet sich mit Amy, einer kindlich jungen, in ihre frömmelnde Unbedarftheit wie in ein unpassendes Kleid gezwängten Frau. Seine Mitgift ist sein bisheriges Leben, ihre ihr künftiges. Die Gelegenheit ist günstig, denn die Befristung seiner Stelle läuft soeben aus. Kane legt (ohne jedes Zeichen des Stolzes auf irgendetwas Erreichtes und auch ohne jedes Zeichen des Bedauerns angesichts der zuende gehenden Lebensphase, einfach mürrisch und überdrüssig, vielleicht in melancholischer Geste) den Marshal-Stern ab. Beiläufig verweist er auf eine eintägige Vakanz, ein Interregnum, nach dessen Ablauf ein neuer Marshal das Amt antreten werde. Er selbst ist im Begriff, mit seiner Frau die Stadt zu verlassen. Ein Gemeindeangestellter bricht zur Tür herein mit einer Hiobsbotschaft: ein stadtbekannter Ganove sei schon vor Tagen vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden, am Bahnhof lungere jetzt seine alte Gang herum und habe nach dem Mittagszug gefragt. Niemand zweifelt daran, was das bedeutet: Mit dem Eintreffen des Mittagszugs werde ein Rachezug beginnen gegen eben jenen Marshal, dem die Gefängnisstrafe zu verdanken sei. Kane versteht sofort: das Problem ist nicht mehr nur die eintägige Vakanz zwischen dem scheidenden alten und dem noch nicht eingetroffenen neuen Marshal; sondern die ganze fünfjährige Amtszeit des Marshals sieht plötzlich aus wie ein Interregnum zwischen der Verhaftung des vormals die Stadt beherrschenden Gewalttäters und seiner Rückkehr. Alles, was er für den Ertrag seines Pflichtbewusstseins hielt, zerfällt; er war bloß der Platzwart des abwesenden Gangsters. Nicht nur Will Kanes Amtszeit, sondern sein ganzes bürgerliches Selbstverständnis verdichtet sich deshalb auf die bis zur Ankunft des »noon train« verbleibenden 80 Minuten; diese Frist ist eine Entsprechung des stummen, verzagten Karsamstags vor dem Sonntag (z.B. im Russischen bis heute: Auferstehungstag), dessen Gottesdienst die Erleichterung zelebriert, und sie ist Gegenstand und Zeitrahmen des Films.
Die Erwartung einer Gefahr dominiert, und diese Gefahr ist die Sinnlosigkeit, die Vergeblichkeit; aber das hindert niemanden daran, sie zu dramatisieren und zu personalisieren. Die Stadt wappnet sich wie gegen einen durchziehenden Sturm. Von allen Seiten werden Will und Amy Kane gedrängt, ihren doch ohnehin geplanten Umzug zu beschleunigen und unverzüglich in größter Eile abzureisen. Sie tun das auch, stoppen aber auf freiem Feld sehr bald und beginnen auf jene fast stumme Weise, die sie schon jetzt als Ehepaar ausweist, die Frage zu debattieren, ob die Abreise eine Flucht sei – und wenn ja, ob vor der erwarteten Rache oder vor der vakanten Verantwortung. Er sagt, weglaufen sei sinnlos – wenn sie noch so schnell durch die Prärie jagten, die Ganoven würden ihnen folgen –, sie sagt, wenn die Gefahr groß sei, sei Weglaufen das einzig Sinnvolle. Es ist klar, was sie meint: die Hoffnung, die sie mit der Zukunft verbindet, ist größer als ihre Furcht; sie läuft gar nicht vor etwas weg, sondern auf etwas zu. Das bemerkt er nicht, die Zukunft ist ihm keinen Gedanken und kein Gefühl wert. Er lebt in der Vergangenheit, die jetzt wieder gegenwärtig ist, und also ist er ganz bei sich und sagt mehr zu sich als zu ihr, Flucht sei seine Sache nicht – »They’re making me run. I never run from anybody before«. Sie, unnötig kindlich, flehend, hilflos: »I don’t understand any of this.« Er, plötzlich aggressiv: »I haven’t got time to tell you.« Er wendet den Wagen und das Schicksal.
Der Barbier und Bestatter, die Klinge an der Kehle eines Kunden, sieht die beiden zurückkommen, kalkuliert die Zeit, die für ihn Geld ist – zehn vor elf –, zählt die vorhandenen Särge und lässt sofort weitere anfertigen; man benötige mindestens vier. Damit ist erstmals ausgesprochen, wovon jeder ausgeht: es werde auf ein Duell der Viererbande gegen Kane hinauslaufen, das höchstens einer, vielleicht keiner überleben und das für die politische Gemeinde entlastende Funktion haben werde. Glockenläuten von ferne, »the most segregated hour in American life« beginnt, »high noon on Sunday«; die Kirchgemeinde ruft zum Gottesdienst.
Will Kane legt sein Pistolenhalfter wieder an und versucht nebenher, in Gedanken schon beim Unausweichlichen, der fassungslosen Amy (»I still don’t understand –«) die Lage zu erklären: der Rückkehrer sei nicht auf Versöhnung aus, sondern wolle eine Rechnung begleichen. Sie beschwört ihn, dass ihn das doch nichts mehr anginge (»That’s no concern of yours – not anymore!«), sein Job sei erledigt, der neue Marshal ernannt. Bis der aber im Amt sei, müsse er bleiben, sagt Kane und heftet sich selbst in bezeichnender Gleichgültigkeit (»anyway, I’m the same man, with or without this«) den Stern wieder ans Hemd. Amy weist diese Selbstermächtigung zurück, vermutet nicht zu Unrecht, dass auch er einfach eine Rechnung begleichen will und einem Ganoven plötzlich ganz ähnlich wird, und versucht ein letztes Mal, die verbliebene Zeit als Fluchtvorsprung in Erinnerung zu rufen. Man könne schnell sein, man könne sich doch auch verstecken, jedenfalls solle er sich ihretwegen nicht aufspielen (»Don’t try to be a hero! You don’t have to be a hero – not for me!«). Als dieses privatistische Wir-zwei-sonst-niemand-Spiel ihn sichtbar abstößt, versucht sie es mit zärtlichen Beschwörungen (»we married just a few minutes ago … doesn’t that mean anything to you … we’ve got our whole lives ahead of us … doesn’t that mean anything to you…«) und wendet, als er entnervt reagiert (»Amy, you know I’ve only got an hour … I’ve got things to do…«), diese eine Stunde gegen ihn. Sie stellt ihm ein Ultimatum: wenn er meine, sie sei bereit »to wait an hour to find out if I’m going to be a wife or a widow«, so irre er sich. Er müsse jetzt, sofort und für immer, mit ihr gehen, oder sie werde allein den Mittagszug nehmen.
Sie macht das auch wahr, fährt zum Bahnhof, löst ein Ticket, erschrickt aber doch angesichts der dort herumlungernden, aufdringlichen Ganoven und folgt dem Rat, in der Hotellobby zu warten. Dort macht sich der Empfangschef einen bösen Spaß daraus, sie durch Hinweise auf die im Hause lebende Besitzerin, eine Verflossene Kanes, zu verhöhnen. Amy beweist Entschlusskraft genug, diese Frau zu besuchen und sich von deren erwachsener Großzügigkeit nicht beeindrucken zu lassen; in einem wiederum naiven Triumphgefühl (sie ist ja die Ehefrau, was immer gewesen sein mag, sie weiß, dass Kane ihr seine Biografie zu Füßen gelegt hat, und sie weiß inzwischen auch, dass nur sein Amtsverständnis mit ihrem Eheverständnis konkurriert) wartet sie in deren Apartment die Geschehnisse nicht nur ab, sondern fährt auch mit ihr zum Bahnhof und besteigt den Zug.
Will Kane ist für die verbleibende Stunde auf den Straßen unterwegs, immer allein, in immer kürzer werdenden Schatten. Er versucht Unterstützung zu finden, niemand ist dazu bereit. Howard Hawks, der 1958 mit John Wayne den Konkurrenzfilm Rio Bravo drehte, um sich unverhohlen dem McCarthyism an den Hals zu werfen, kommentierte diese Szenen so: »Ich kann mir keinen guten Sheriff vorstellen, der in der Stadt wie ein Huhn herumläuft und im Kopf weiter nichts als den Gedanken hat, wer ihm helfen wird«, das Ganze sei das denkbar »Unamerikanischste« (zit. im Metzler Filmlexikon, 2. Aufl. 2005, hier S. 540; vgl. auch Rustemeyer a.a.O.). Anders gesagt: Kane sei ein abgehalfterter Greis, der seine Stunde verpasst habe, oder ein Bettler, der auf anderer Leute Kosten zu leben versuche. Stellt man die kalkulierte Bosheit und die politische Anbiederei dieser Sätze zurück, werfen sie in der Tat ein Licht auf Kanes Schicksal: dass niemand ihm hilft, liegt sehr wahrscheinlich darin begründet, dass er Hilfe überhaupt braucht. Wäre er satisfaktionsfähig, bräuchte er nicht Hilfe, sondern hätte sie sowieso. Dass er fragt, dass er hausieren geht, und das am Sonntag!, diskreditiert ihn und legitimiert die unterlassenen Hilfen als seriöse Vorsichtsmaßnahmen.
Das öffentliche Leben des Städtchens ist seltsam stillgestellt; ein paar Kinder spielen, ein paar Saufkumpane tratschen in der Kneipe, und sehr viele lauschen in der Kirche einer Weltuntergangspredigt. Kane fragt zunächst den Richter, der eben noch seine Eheschließung beglaubigt hat; der aber – auf seine Art ein früher Protagonist der Position, die Detlef Pollack in der Auseinandersetzung mit Ilko-Sascha Kowalczuk eingenommen hat – findet es völlig absurd, sich für »a dirty little village in the middle of nowhere« zu opfern oder auch nur einen Tag länger als nötig dort zu verbringen, denn »nothing that happens here is really important, now get out!« Wie schon die kühl verknappte Hochzeitszeremonie, so inszeniert der Richter auch diesen Abgang als nüchterne Angelegenheit, die keiner Emotion und keiner Reflexion würdig sei – eine Gefühls-, Denk- und Maulfaulheit, die er als Pragmatismus darstellt: »no time for a lesson in civics, my boy«. Dass Kane bleiben will, kommentiert er lakonisch: »What a waste.«
Kane fragt seinen Hilfssheriff, der seine Stunde tatsächlich gekommen sieht und annimmt, er könne direkt ins reguläre Amt aufsteigen; als Kane ablehnt, zieht er sich aus gekränkter Eitelkeit zurück. Er fragt seinen alten Förderer und Amtsvorgänger (dieser ist es hier, der Rheuma und Schmerzen hat); auch er lehnt ab, mit der verzweifelten Feststellung, sein Leben als Sheriff sei völlig vergeblich gewesen –»If you’re honest you’re poor your whole life, and in the end you die all alone on some dirty street. For what? For nothing. For a tin star« –, und dass Kane geblieben und nicht geflohen sei, sei nichts als sinnloser Selbstmord. Ein Freund versteckt sich in der Stube und lässt sich durch seine Frau verleugnen. Die lästernden Männer in der Kneipe höhnen nur und beugen dadurch doch nur der larmoyanten Einsicht vor, zu betrunken zu sein, um überhaupt Hilfe und nicht Last sein zu können; sie betrinken sich sogar eilig, um nicht doch in Frage zu kommen. Schließlich wendet Kane sich an die in der Kirche versammelte Gemeinde, die über die Lage auch tatsächlich zunächst zugewandt debattiert (vgl. Rustemeyer 2013, 350ff.). Die Sicht des Richters – ein ödes Drecknest – teilt niemand, die Sicht des alten Sheriffs – ein für die Aufrechterhaltung einer Ordnung vergeudetes Leben, die niemanden sonderlich interessiert – teilt auch niemand. Die Hauptsorge ist Ansehensverlust; niemand will den Ruf gefährden, den die Stadt sich erarbeitet hat, und alle anerkennen, dass dafür die verlässliche Rechtsordnung erforderlich war, die Kane ermöglicht hat. Nach und nach werden die Perspektiven der einzelnen Positionen und Rollen deutlich; keiner spricht ehrlos oder aggressiv oder zieht sich ins Indifferente zurück. Aber es gibt niemanden, der Kanes Perspektive teilt, sie ist die einzige nichtintegrierbare Position. Und so sieht dann auch der Beschluss der ad-hoc-Bürgerversammlung aus: Kane möge die Stadt verlassen, um den drohenden Konflikt außerhalb der Stadt auszutragen. Dies sei der letzte Dienst, den die Bürgerschaft von ihm erwarten zu dürfen meint. »It’s better for you and it’s better for us.«
Kane geht. Er schlurft jetzt fast, nichts Entschlossenes oder Zuversichtliches ist in seinem Gang. Auch nicht das westerntypische Wiegen des Reiters. Er schleppt sich zurück, fast ohne Schatten inzwischen, also nahezu körperlos. Die Uhr zeigt 5 vor 12, als er ganz allein ist. Er schreibt sein Testament, bricht einen Moment am Tisch zusammen. Die Leute in der Kirche und die Leute in der Kneipe warten. Die Gangster am Bahnhof warten. Die zwei Frauen im Hotel warten, Punkt 12 sieht man sie zusammen auf dem Kutschbock, sie fahren los und an Kane vorbei, ohne Halt. Er sieht ihnen nach. Jetzt noch der Rest.
Kane steht in praller Sonne allein auf der staubigen Straße. Der Zug trifft ein, die Bande ist schnell in der Stadt. Sie suchen ihn, sie schlagen ein Schaufenster ein, das verrät ihren Ort, und dann eskaliert alles, Feuer wird gelegt, ein Stall brennt, Kane befreit die Pferde, Männer liegen erschossen auf der Straße, Amy stürzt alarmiert aus dem Zug zurück in die Stadt und in Kanes Polizeistation. Sie ist es, die den entscheidenden Schuss abgeben und ihren Mann retten wird. Sie ist es, die als Geisel ein Handgemenge provoziert und derart furchtlos den letzten der Gangster attackiert, dass Kane auch diesen erschießen kann. Aber: In die Ehe hatte sie eingewilligt unter der Bedingung, dass Kane Waffe und Stern ablegt und sein Amt aufgibt. Vollzogen wird diese Ehe nun in der Gewalt eines öffentlichen Duells unter sengender Sonne, nicht in der Zärtlichkeit eines privaten, schattigen Zimmers. Die Schuldlosigkeit, die von Amy erwartet wird und mit der sie sich auch schmückt (sie trägt nie etwas anderes als ihr weißes Hochzeitskleid), gibt sie auf – indem sie tötet, nicht, indem sie liebt (und viele, viele werden ihr folgen). Die Ehe, nicht die Liebe hat den Platz des Amtes eingenommen; Wills graue, abgeklärte Melancholie wird auch Amy erfassen. Die dreißig Jahre, die Amy jünger war als ihr Mann, zerfallen zu dem Staub, in den Kane seine Colts, seinen Pistolengürtel und schließlich seinen Marshal-Stern fallen lässt. Sie sind seit einer Stunde für immer verheiratet.
High noon ist überstanden. Der Barbier verwendet alle vier Särge. Die Leute verlassen die Kirche für Küche und Kneipe. Die Auferstehung kann verschoben werden, eigentlich kann sie auch ganz ausbleiben: Sonntag wird Wochenende. Niemandem fehlt etwas.
Well –