Die letzten Jahre bin ich morgens spät aufgestanden. Wie es dazu gekommen war, kann ich nicht mehr genau rekonstruieren. Es hatte sich irgendwie eingeschlichen, ein Einschleichen, das auch ein Aushöhlen war; ein Aushöhlen der Tage, die ich länger und länger zog, um ihnen noch ein wenig mehr, ein wenig mehr Tag abzugewinnen. Immer wieder die Verzweiflung, dass der Tag noch nicht genug Werk hatte – die Nacht kam immer zu früh. Hatte ich schon einen guten Gedanken? Nur ein guter Gedanke wäre genug gewesen, doch viele Tage blieben leer. Viele Abende trug ich mein Notizbuch durch die Wohnung – die Zeit lief mir davon, wurde knapp… ich hatte noch nichts notiert! Zu banal, ausgehöhlt waren die Aufgaben des Tages, Tage ohne Spuren, Tagwerk ohne Werk oder taglose Werke, was dasselbe ist. Leere Tage, leere Werke. Die Bedeutungslosigkeit der Tage erzeugt eine eigene Art der Verzweiflung, leert noch das vollste Leben; ich fühlte mich… dünn. Nur noch eine Ahnung…
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Seit einigen Monaten gehe ich früher schlafen und stehe morgens früher auf. Nicht um 4:00 Uhr, aber nah genug. Die ersten Tage waren mühsam, doch dann… ich zögere, aber kann es kaum anders beschreiben… als dass ich den Eindruck habe, auf eine magische Stunde, eine magische Bewegung gestossen zu sein…
Es ist stockdunkel und kalt, wenn ich aufwache und alles noch ruhig. Selbst die grosse, vierspurige Strasse und Kreuzung vor dem Haus ist kaum zu hören; kaum ein Auto, die Strassenbahnen seltener und selbst wenn sie vorbeifahren, habe ich den Eindruck, sie versuchen möglichst leise auf den Schienen über die Kreuzung zu rumpeln, als wären sie noch im Halbschlaf oder in diesen taktvollen Interaktionsketten wechselseitiger Verhaltensabstimmung, die man vielleicht auch aus Bibliotheken kennt: dieses gemeinsame Bemühen um die Stille, die zu wahren zwar Geräusche nötig macht, ja ganz eigene Geräusche hervorbringt, doch sind sie seltsam unaufdringlich, so vorsichtig rücksichtsvoll. Das Soziale als eine Art Musik der Interaktion, zärtlich, verwoben, leise, liebevoll. So die Strassenbahn, so der Nachbar, der sich jeden Morgen um 6 Uhr aus dem Haus stiehlt, der andere, der seinen Hund morgens ganz leise anflucht, weil es ihn nach draussen zieht, sein Herr aber nicht so schnell hinterherkommt, und auch ich gehe leiser durch die Wohnung, in der ich alleine lebe. Wen ich nicht wecken will…?
Ich mache am Morgen immer das gleiche: entweder gehe ich Laufen, eine Runde über den dunklen Mannheimer Zentralfriedhof, die selben Wege, erkenne die Bäume auch im Dunkeln, unter der Unterführung durch, am Neckar entlang bis zur Schleuse und zurück. Vor ein paar Monaten wurde es noch hell während des Laufens, jetzt im Dezember bleibt die Sonne noch lange weg und ist auch noch lange nicht zu sehen, wenn ich wieder zuhause bin. An allen anderen Tagen das, was ich nach dem Laufen mache, nur früher. Duschen, Kaffee trinken, lesen und schreiben. Ich schreibe Zettel… wie diesen hier…
Es sind die wundervollsten Stunden des Tages, diese ersten. Es sind gestohlen Stunden, herausgeschnitten aus dem Nichts der Nacht. Marie beschrieb es mir einmal so. Lange mochte ich zum Schreiben die späten Stunden, wenn der Tag schon alt und reich war, ich auch etwas zu schreiben hatte… an den guten Tagen zumindest. Wie sollte man auch am Morgen aufstehen und schon schreiben können? Dachte ich. Doch die ersten Stunden sind anders, – und ganz anders besonders. Der Tag ist noch nicht da, der Kalender noch gar nicht aufgewacht, die Nacht und Träume noch nah, niemand will etwas von mir… und selbst ich bin… ich stehle mir die Stunden von diesem Tag (oder noch von der Nacht?), bevor er (oder sie) es merkt. Vielleicht bin ich auch deshalb so leise…?
Ich weiss natürlich, dass über diese ersten Stunden so Vieles geschrieben wurde, erinnere manche Erzählungen über Schriftsteller und Wissenschaftlerinnen, die früh am Morgen «fünf Stunden schreiben». Man liest es und weiss doch wenig damit anzufangen. Diese Stunden am frühesten Morgen bleiben abstrakt, ohne jede Sinn, wenn sie auf keine eigene sinnliche Erfahrung treffen. Sie bleiben selbst in diesen Erzählungen dem Verstehen entzogen, wie aus einer anderen Welt.
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Während meines Studiums bin ich ähnlich früh aufgestanden wie heute, hatte diese ersten Stunden nur für mich, bevor die grosse WG in der Schillerstrasse 8 wach wurde und an einen klaren Gedanken oder daran, etwas zu lesen, nicht mehr zu denken war. Und jetzt, heute, viele Jahre später, etwas Seltsames: es ist mir, als wäre da eine Art Ich in diesen Stunden wach, als wäre ich in diesen Stunden ein anderer, einer, der ich viele Jahre nicht mehr war, ein Moritz, der nur um diese Zeit wach sein kann, eingeschlossen in der Zeit der Uhrzeit… verrückt, und doch genau so! Vielleicht bin ich auch deshalb so leise, weil dieses andere Ich, mein Tages-Ich, nicht wecken will…?
Arno Schmidt schrieb:
»man rufe sich am Abend den vergangen Tag zurück, also die ‹jüngste Vergangenheit› (die getrost noch als ‹älteste Gegenwart› definiert werden könnte): hat man das Gefühl eines ‹epischen Flusses› der Ereignisse? Eines Kontinuums überhaupt? Es gibt diesen epischen Fluß, auch der Gegenwart, gar nicht. Jeder vergleiche sein eigenes beschädigtes Tagesmosaik! Die Ereignisse unseres Lebens springen vielmehr. Auf dem Bindfaden der Bedeutungslosigkeit, der allgegenwärtigen langen Weile, ist die Perlenkette kleiner Erlebniseinheiten, innerer und äußerer, aufgereiht. Von Mitternacht zu Mitternacht ist gar nicht ‹1 Tag›, sondern ‹1440 Minuten› (und von diesen wiederum sind höchstens 50 belangvoll!)».
(Schmidt 1985, 290f.)
Dieses Tagesmosaik ist mir so vertraut. Wie oft hatte ich über jene 50 Minuten versucht, in meinen Podcastfolgen zu sprechen, wie oft faltete sich das sprechende Nachdenken über diese Mosaiksteine gerade im Sprechen in diese ein. Doch fehlt hier etwas. Was ist mit jenen Stunden am Morgen, die nicht mehr Nacht und noch nicht Tag sind? Von diesen magischen Spiegelsplittern, die man nur so überraschend findet, gar nicht anders finden kann, schrieb Arno Schmidt nichts. Diese Stunden vor allen Stunden, in denen Teile meines Ichs eingesperrt sind… als hätte man eine Schlaufe in das Zeit-Raum-Kontinuum geknüpft – und wäre darin verschwunden. Nur wenn man dieselbe magische Bewegung des Knüpfens jenes Bindfadens wiederholt, findet man sie auf geheimnisvolle Weise wieder, dem abstrakten Denken so gänzlich unzugänglich. Ein wenig verhält es sich wie mit Erinnerungen an Orte, an denen man für eine gewisse Zeit lebte. Städte, Stadtviertel, Wohnungen, Arbeitsplätze, Bibliotheken, Strassen, Cafés… Unmöglich, sie sich ‹ins Bewusstsein zu rufen›, wenn man sich an einem anderen Ort befindet. Natürlich erinnere ich mich daran, dort gelebt zu haben – ich habe es nicht vergessen. Aber was für ein Unterschied zu jenen und noch zu Madeleine-Momenten, wenn man diese Orte wieder besucht! Mit einem Mal strömen die Erinnerungen in einen zurück, erfüllen mich ganz und gar. Leibsinnliche Erfahrung, mein Körper kennt hier kaum den Unterschied zwischen Erleben und Erinnern. Wie beschränkt, nein: falsch! jene vermeintlich so vernünftige Vorstellung, dass diese Erinnerung in unserem Gedächtnis (was ist das?) oder gar in unserem ‹Gehirn› ‹gespeichert› gewesen sein soll! Vollkommener Unsinn, wo doch ganz unmittelbar erfahrbar diese Erinnerungen an den Orten selbst liegen, in den Spuren, die man dort hinterlassen hat, diese Spuren, die mein Körper noch kennt wie Finger, die ein Musikstück noch zu spielen vermögen, wenn ‹ich› (ich ist immer ein anderer – Nancy?) es lange schon vergessen habe. Wohnen heisst, Spuren zu hinterlassen, schrieb Benjamin…
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Als ich in Berlin wohnte und jede Woche Montag, früh morgens, mit dem Zug zur Zeppelin Universität nach Friedrichshafen an den Bodensee pendelte und jeden Donnerstag spät abends nach Berlin über die hohen Gleise, seltsam über der Stadt schwebend, zurückkam, machte ich eine ähnliche Erfahrung… tremendum et fascinans. Der Blick aus dem Zug auf die noch verschlossene Bibliothek des Grimm-Zentrums, den dunklen Kindergarten unten, die Strassen leerer als sonst. Wie seltsam verschoben, ver-rückt jene Orte wirkten, die nur zu bestimmten Zeiten existierten – und ausserhalb dieser: nicht. Als wären sie zurückgetreten, in einen Schattenbereich, zwischen Realität und Schlaf, vielleicht Orte im Traumzustand.
Diese seltsame Verschiebung trifft mich jedes Mal, noch heute, ohne Ausnahme. Ich spüre sie durch mich hindurchgehen, wie eine Ahnung (eine Erinnerung?) jenes Empfindens, wenn man sich an einem solchen Nicht-Ort zu einer solchen Un-Zeit aufhalten würde… Ob man dort, als die, der man ist, überhaupt bestehen kann – oder nicht mit einem Mal verschluckt würde, mit unwiderstehlicher Macht in dieses Schattenreich gezogen? Die Ahnung selbst aber auch eine Art von Gefühl, wie es ist, an solchen Orten/Zeiten/Ortszeiten ortszeitlose… zu denken, zu fühlen… eine Ahnung der Art eines solchen, anderen Denkens. Ich weiss nun, dass man dort – vielleicht nur dort – andere Gedanken, Gedanken einer so ganz eigenen Art, seltsame, verschobene, shifter Gedanken denken kann… Roland Barthes’ Neutrum kommt mir in den Sinn, Ideen, die es vermögen, Paradigmen aufzuheben, aus den Angeln ihrer binären Befestigungs-Schematismen zu heben… nicht etwas Drittes, nein auch das nicht. Nicht hart noch feinstofflich, weder noch… verschoben, driftend… gibt es Stunden des Neutrums?
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Vielleicht sind es auch die diesen Stunden angemessenen Bewegungen, die mich leiser durch die Wohnung laufen lassen, shifter Bewegungen, zwischen den Reichen des Tages und der Nacht. Ich dachte immer, ich könnte morgens nicht schreiben. Und dann… eingefaltet in diese Stunden, eine ganze, eigene Welt, voll eigener Gedanken – ja einer eigenen Art zu denken – zu der es überhaupt keinen andere Zugang zu geben scheint, als ihn immer schon gefunden zu haben… immer nur zufällig.
In diesen Stunden schreibe ich nun in meine Hefte (die deutlicheren) und auf Zettel (die zerbrechlichsten) Worte und Sätze. Die Morgen nun fühlen sich an, als müsste ich versuchen, Verbotenes zu Schmuggeln. Jeder Satz aus diesen Stunden ein kleiner Diebstahl, die Lust am Text ein diebisches Vergnügen. Wahrheiten über die Grenze zu schmuggeln, die Grenze, welche die Vernunft (das Gesetz) des Arbeitstages gesetzt hat und die wir in all den unzähligen Verhaltensweisen des Normaltages und seiner Rhythmen in vollkommener Bewusstlosigkeit darüber reproduzieren.
Über diese Grenze schmuggle ich meine Zeilen. Dort – vielleicht will ich auch nur das schreiben… ein Schreiben, das ein Flüstern ist, weil ich nicht wecken will, an was jede Ahnung zerbricht… – dort, in diesen Stunden liegen ‹magische› Gedanken, eine geheimnisvoll andere Ästhetik des Denkens. Etwas, was ich lange zu suchen aufgegeben oder vielleicht einfach verlernt hatte…
Aus diesen Stunden schreibe ich auch diese Zeilen auf einen Zettel; aus dem Limbo, in dem nur verlorengeht, aus dem doch nie eine Nachricht zurückkommt, zu jener Unzeit, Nicht-Zeit, in diesen magischen Stunden am Morgen, wo es beginnt, bevor alles anfängt, wo für viele der Vortag erst endet, zwischen Nacht und Tag «entre chien et loup» (zwischen Hund und Wolf). Rauhstunden, Stunden wie die Zeit zwischen den Jahren, wo die Bindfäden zusammengeknüpft und zu Schlaufen geflochten werden, um die Perlen der geheimnisvollsten Momente aufzuknüpfen, Spiegelglasperlen…
Quellen:
Schmidt, Arno. 1985. „Berechnungen I“. In Rosen & Porree, 283–92. Frankfurt am Main: S. Fischer.
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