Hamlet I (William Shakespeare)
Hamlet, Akt 1, Szene 1. Zwei Wächter, die in der vorigen Nacht einen Geist gesehen zu haben glauben, und Horatio, der dessen Existenz bezeugen soll, warten auf dessen erneutes Erscheinen.
BARNARDO Last night of all, When yond same star that’s westward from the pole Had made his course t’ illume that part of heaven Where now it burns, Marcellus and myself, The bell then beating one – Enter Ghost. […] MARCELLUS Thus twice before, and jump at this dead hour, With martial stalk hath he gone by our watch.
Die Uhr schlägt eins, und wieder erscheint der Geist, „and jump at this dead hour“, oder, wie es in der Übersetzung von Roland Schimmelpfennig heißt: „Und gerade zu dieser toten Stunde“.
Hamlet II (Johan Simons)
Hamlet, erste Szene in der Inszenierung von Johan Simons am Schauspielhaus Bochum. Zu einem hohen, unangenehm sirrenden Ton betreten zehn Schauspieler:innen von der Seite die Bühne und stellen sich in einer Reihe vom vorderen Bühnenrand ins Publikum gewandt. Der weiße, an drei Seiten von einem niedrigen Sockel umsäumte Bühnenboden gleicht einem flachen, ins Publikum hin randlosen Bassin. An einem Stahlträger hängen eine leuchtende Kugel sowie im hinteren Teil der Spielfläche eine vertikal ausgerichtete Kupferplatte von der Decke. Nach und nach verlassen einzelne Schauspieler:innen die Personenübersicht in Richtung Publikum und nehmen in der ersten Reihe Platz. Der sirrende Ton verstummt erst, als nur noch Hamlet, gespielt von Sandra Hüller, zurückbleibt und zu sprechen beginnt. Passagen übernehmend, die im Shakespeareschen Original Horatio spricht, adressiert Hüller den Vater/Geist, spricht diese aber, mit gesenktem Blick und dringlich, wie an sich selbst gewandt. Ein dabei schnell und mit brüchiger Stimme wiederholtes „Du bist hier“ kann sowohl als Hamlets Erschrecken und Verzweiflung darüber verstanden werden, dass er seinen toten Vater sieht, als auch als Erschrecken und Verzweiflung über die eigene Existenz. Hüller knüpft daran ein Zitat aus Heiner Müllers Hamletmaschine an, bevor auch sie in der ersten Publikumsreihe Platz nimmt:
Meine Gedanken sind Wunden in meinem Gehirn. Mein Gehirn ist eine Narbe. Ich will eine Maschine sein. Arme zu greifen, Beine zu gehen, kein Schmerz, kein Gedanke, nichts.
Hamlet/Nicht-Hamlet
Wie die Schauspieler:innen zwischen Publikumssaal und Bühne wechseln, immer wieder auch aus dem Saal mit den Akteur:innen auf der Bühne interagieren, wirkt, als betrete die Bühne, wer gerade einen Impuls dazu hat, und beginne der- oder diejenige zu sprechen, der oder die gerade etwas zum Gehörten und Gesehenen zu sagen hätte. Weil alle alles hören und alle alles sehen, sind dem Drama seine handlungsleitenden Intrigen genommen. An seinem Ablauf ändert das nichts. Das Drama Hamlet selbst – und nicht erst die Szene der Mausefalle, in der Hamlet mit einer Inszenierung den Vatermord entlarvt – wird zum Theater auf dem Theater. Die Schauspieler:innen, allen voran Sandra Hüller, ringen mit dem Text und der Erzählung, eignen sich beide an, spielen sie sich zu, holen sie nah an sich, distanzieren sich wieder von ihnen. Hüller ist gleichzeitig Hamlet und der bei Heiner Müller auftretende Hamletdarsteller; dem Monolog übers Sein oder Nichtsein stellt sie ein „Tja“ voran: Tja, sie weiß eben längst, dass es kein entweder-oder ist, und tja, wer Hamlet darstellt, der kommt um diesen Monolog eben trotzdem nicht herum. Hüllers Hamlet formuliert die Unterscheidung vom Sein oder Nichtsein dann, zunächst noch verheißungsvoll, als Angebot an den im Publikum sitzenden Claudius, sich durch Suizid der Schuld des Brudermordes zu entziehen. Was Hamlet selbst fürchtet, was ihn zögern lässt – dass das Sterben eben kein traumloser Schlaf sein könnte, dass die Träume andauern – wird, an Claudius adressiert, auch als potentiell genüssliche Prophezeiung verstehbar. „Unser Bewusstsein macht uns alle feige!“, schließt Hüller, jetzt wieder hadernd und sich von Claudius und dem Publikum abwendend.
Und gerade zu dieser toten Stunde
Weil alle Schauspieler:innen auch Zuschauer:innen sind, und weil diese Konstellation wiederholt explizit benutzt wird, indem Haltungen angeboten und Rückmeldungen eingefordert werden, schärft Simons Hamlet das Bewusstsein für den Darstellungscharakter auch des Wahnsinns, des Zauderns, der Verzweiflung, des Erduldens. Ob Hüllers zögernde, (ver)zweifelnde Annäherung an Hamlets Zögern und (Ver)Zweifeln methodische Herangehensweise oder reflexive Dopplung, persönlicher Zugang oder inszenierte Form ist, wird unentscheidbar. Erzählung, Inszenierung und Schauspiel verschwimmen, Hamlets aus den Fugen geratene Zeit befällt das ganze Theater. Wie die Mausefalle eine Eigenzeit eröffnet, in der der vergangene Tod des Vaters vergegenwärtigt und so auch Hamlets achronisches Zeiterleben was diesen Tod betrifft mit dem der anderen synchronisiert werden kann, eröffnet Simons Hamlet eine Eigenzeit, in der die Personen der Inszenierung gleichzeitig als Typen und Figuren erkennbar werden und trotzdem in der Gegenwart und als Menschen in Beziehung zueinander treten können, ohne dass das eine vom anderen je unterschieden werden könnte. Simons Hamlet braucht die Unzeit, in der das Stück beginnt – zu dieser » toten Stunde « der Vater/Geist-Erscheinung, in der Hüllers Sätze die erste Szene verorten, und die auch eine Totenstunde ist –, weil alle auftretenden Personen, nicht nur Hamlets Vater, Wiedergänger sind, und für sie alle gilt, dass unentscheidbar ist, ob sie Geister, Inszenierungen, Projektionen eines wahnsinnigen Verstands, Traumfiguren, Archetypen oder materielle Gegenüber sind.
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