Adventskalender 2022. Die elfte Stunde: 10:01 – 11:00 Uhr.

Der Zauber der Verschwendung

Am 11.11. wurde mir für mein Kalendertürchen die 11 zugelost. Mir. Dem Kölner. Es fällt mir nun sehr schwer, der naheliegenden Versuchung zu widerstehen. Ich werde ihr auch nicht widerstehen. 11:00 Uhr ist der schönste Moment im Karneval, dann, wenn es so gerade noch nicht losgegangen ist. Irgendwo Aufstellung der Wagen für den Zug. Irgendwer wartet auf dem Alten Markt inmitten Massen von irgendwem sonst. Irgendwer anders steckt, noch verhalten grölend, in einer viel zu vollen U-Bahn fest. Sonstwer sitzt in der Schule und wartet darauf, mitten in die Rede des Lehrers herein, den Count-Down anzuzetteln, in den dann alle anderen einstimmen werden. Am schönsten ist das alles allerdings nicht am 11.11., sondern an Weiberfastnacht. Wenn man, wie ich, gern den Kulturhistoriker heraushängen lässt, hat man nun, lange bevor es überhaupt losgeht, die Erwartung heraufbeschworen, die langweiligen historischen Gründe für die 11 Uhr runterzubeten, über die elf Jungfrauen zu schwadronieren, die angeblich in Märtyrertod gestorben sind, weil sie sich weigerten, den Hunnen (die niemals in Köln waren) zu Willen zu sein, über die findigen Kölner vom Leder zu ziehen, die, als ihnen die in Massen an Pilger verkauften Reliquien ausgingen und über Nacht stillschweigend nur noch von 11.000 statt 11 Jungfrauen sprachen – eine Art Kölner Speisung der 5000, denn fortan ließ sich jedes nur erdenkliche römische oder fränkische Grab ausheben und damit gutes Geld verdienen – über das Kölner Wappen meinen Senf dazuzugeben, auf dem die nach Ursulas Märtyrertod am Himmel aufleuchtenden elf Flammen (für jede 1000 Jungfrauen eine) in schwarz abgebildet sind, durch die die Belagerer der Stadt in hunnenübliche Panik gerieten und die Stadt somit gerettet war, sodass die 11, die eigentlich ansonsten keine sonderlich heilige Zahl ist, wenigstens in Köln geheiligt war, was dann nach etlichem sonst noch anzuführenden langweiligen Mäandern des begradigunsresistenten Dahinrinnens des Weltgeists offenbar Anlass gab, die 11 für den Karneval zu heiligen: auch als Uhrzeit, wo sie liturgisch zwischen terz und sext gelegen denkbar unbedeutend war. Aber wen interessiert diese historische Herleitung schon? Denn die 11. Stunde ist noch etwas viel Schöneres. Es ist diejenige Zeit des Tages, an der die meisten Menschen über den Tag verteilt am produktivsten sind. Das Zeichen, das der Karneval setzt und dem ich mich anschließen möchte ist, sie zu verschwenden.

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Über Jan Söffner

Jan Söffner ist Professor für Kulturtheorie und Kulturanalyse an der Zeppelin Universität Friedrichshafen.

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