Adventskalender 2022. Die vierzehnte Stunde: 13:01 – 14:00 Uhr.

Von nun an bin ich ein Gefangener in mir selbst

Michel Houellebecq, Ausweitung der Kampfzone (Extension du domaine de la lutte, 1994), dt. von Leopold Federmair, Taschenbuchausgabe, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2000.

 

Freitag ab eins macht jeder seins, das wäre ein praktischer Auftakt für eine Betrachtung zur 14. Stunde des Tages, der zweiten des Nachmittags. Mit dem Schritt aus dem Büro fängt irgendwie das Selbst an, wahrscheinlich – wieso sonst jeder seins – in einer egoistischen Variante, als Selbstsucht, die als anfangs resigniertes, dann aber aggressives Bedürfnis während der Zeit davor entstanden und genährt worden sein muss und auch über die freie Zeit des Wochenendes nicht schwächer wird, weil diese freie Zeit nur das Zeitloch ist zwischen Freitagmittag und Montagmorgen.

Irgendeine Polemik über das fade-out der Büromasken am Feierabend und, freitags, am Nachmittag hätte sich leicht schreiben lassen. Schriebe man einen solchen Text in der Verfassung, in die einen ein gewöhnlicher Bürotag zuverlässig versetzt, vielleicht unter Verwendung von Versatzstücken der Notizen und Kritzeleien, die während der Besprechungen des Tages so entstanden waren, dann bräuchte man die Sprache nur zur assoziativen Umhäkelung all des Blechs, das da geredet, gesehen, gehört worden war. Es würde nichts helfen, das Büro zu verlassen, es würde nichts helfen, Umwege zu nehmen, um die Kollegen loszuwerden, die die Nerven behalten haben und jetzt einen Zug früher schaffen. Denn auch ohne Gespräch, endlich schweigend, gäbe es kein Entrinnen vor den Spruchbombardements der zugetexteten Wände in Straßen, U-Bahnen und Wartehäuschen, den schreienden Pulloveraufschriften, den süßlichen Jingles der Supermärkte, den Automatenstimmen der Busse, dem schimmligen Geruch nasser Turnschuhe (schon das Wort Sneaker ist übergriffig), der öligen Penetranz schwerer Parfums, dem Scheppern der Kopfhörer, dem Berg Verpackungsmüll, der sich schon unterwegs von den Einkäufen schält – alles (wie sagt das Büro?) zahlt ein auf die Bilanz des Tages. Es gibt diese schöne Überlegung des jugendlichen Robert Schumann, wie sich wohl schreiben ließe, wenn man betrunken nicht einschliefe, wenn man sich (er dachte an eine Musikjournalistenlaufbahn) nach der Kneipe nicht ins Bett legte, sondern an die Texte setzte. Ein Bürotag, eine Bürowoche ist etwas anderes, aber der Einfluss auf die Texte wäre vielleicht ebenso existentiell. Würden wir jeden Tag oder wenigstens am Ende jeder Woche immer sogleich zu schreiben beginnen, wenn die Tür endlich hinter uns zufällt, so würde die beständig genährte, immer unbefriedigte Selbstsucht tatsächlich produktiv werden. Es entstünden von Überdruss und Verachtung, auch – warum habe ich wieder eine Woche lang nichts gesagt, nicht gekämpft, nicht gekündigt? – von Selbsthass triefende Stücke. Ohne eine Brückenstunde, ohne ein wenigstens kurzes zeitliches Niemandsland zwischen Büroalltag und Eigenzeit hätte die Lunge nie Platz für ein bisschen Luft, bestünde keine Chance für einen freundlichen Text. Und doch: wann ließe sich diese Chance je nutzen, wenn man nach einer kurzen oder auch ausgedehnten Drift durch U-Bahnen, Straßen und Kneipen dann in einer leeren Wohnung landet und das Wochenende ein Abgrund ist, an dessen Rand man entlangwankt, bis es – das Wort endlich in seinem vollen Sinn – wieder Montag ist? Man hasst es – don’t like – , ohne überhaupt sagen zu können, warum: can see no reasons ‘cause there are no reasons.

Die technische Gewährleistung solcher überflüssig-nichtiger reasons sei sein zur gesellschaftlichen Gegenwart genau passender Job, stellt der junge Informatiker fest, mit dessen Stimme Michel Houellebecq in »Ausweitung der Kampfzone« spricht. Er bewegt sich wie auf Messers Schneide auf der Differenz zwischen Arbeit und Freizeit, Büro und Wohnung, Stadt und Land, Tag und Nacht. (In einem einzigen Augenblick ist diese Bewegung ein Gefühl; beim Betrachten eines tanzenden Paars verblasst der Überdruss, und Melancholie breitet sich aus – um sogleich in Zynismen zu erfrieren.) Er beobachtet erbarmungslos und schreibt ein Bewusstseinsprotokoll, das einen Voyeurismus der Verworfenheit zugleich beklagt und praktiziert. Durch den Text ziehen sich sehr komische, präzise Skizzen der Selbstdarstellungsmarotten im Berufsalltag, einerseits; andererseits tauchen immer wieder wie aus dem Nichts sehr dunkle Epiphanien des Todes auf, die ihn, »ein Musterbeispiel … vitale[r] Erschöpfung« (S. 35), merkwürdig anziehen: In einem Supermarkt kollabiert ein »Typ« (S. 72), und »man kann nicht sagen, dass es ein würdiger Tod war, mit all den Passanten, die ihre Einkaufswagen vor sich herschoben …, in dieser Zirkusstimmung, die die Supermärkte auszeichnet«, aber »als ich das Kaufhaus verließ, war der Mann immer noch da. Man hatte ihn in Teppiche gehüllt oder eher in dicke Decken, die fest verschnürt worden waren. Er war bereits kein Mensch mehr, sondern ein schweres und träges Frachtstück, für dessen Transport man Vorkehrungen traf. Das war’s auch schon« (S. 73). Wenig später erfassen ihn quälende Herzschmerzen und Atemnöte, »ich hatte das Gefühl, wenn das so weiterginge, wäre ich bald im Jenseits, schon in wenigen Stunden, jedenfalls vor Sonnenaufgang« (S. 80) – aber natürlich geht es ›so‹ nicht weiter. Er erholt sich halbwegs, »kultivier[t] eine kleine Depression« (S. 34) in der Hoffnung, sich »auf Dauer in einem abwesenden Leben einrichten zu können«, aber »die fortgesetzte Langeweile ist keine haltbare Position: Sie führt leider früher oder später zu wesentlich schmerzhafteren Wahrnehmungen, verwandelt sich also in einen positiven Schmerz« (S. 52f.). Er trauert seiner Exfreundin hinterher, relativiert diese Trauer aber durch die Erinnerung an die lapidare Kälte, mit der diese den Selbstmord ihres Kollegen zur Kenntnis nahm, der – Freitag ab eins macht jeder seins »an einem Freitagabend im Dezember … nach Hause [ging] (er musste am Montag nicht zurück sein; er hatte, was nicht unbedingt seinem Wunsch entsprach, zwei Wochen Urlaub ›wegen der Feiertage‹) und … sich eine Kugel in den Kopf [schoss]« (S. 109). Usw. Lauter Tode, beiläufig, sachlich, banal. Woher der Schmerz? Egal; was durch den Alltag zur Verfügung gestellt und plausibilisiert wird, ist die kalte, geringschätzige Form der Beobachtung: »als ob man von der Welt durch einen transparenten, unverletzbaren, perfekten Film getrennt wäre.« (S. 97). Der Tod wird evaluiert wie jedes andere Ereignis; er kommt eben vor, »plötzlich ist Schluss« (S. 52). Wie ein Geschäftsbericht, emotionslos vorgetragen und knapp bemessen in der allseits akzeptierten Absicht, pünktlich Feierabend machen zu können; vielleicht zur Erheiterung der Anwesenden aufgelockert »durch eine Art von zynischer Vulgarität«, um »den düsteren Aspekt der Sache zu überspielen« (S. 32).

Es ist eine Adventsgeschichte, die hier erzählt wird; ihr Höhepunkt ist die Nacht zwischen 24. und 25. Dezember. Eine vierwöchige Dienstreise steht an; zwei Softwareingenieure werden über Land geschickt, um in verschiedenen Provinzbehörden Schulungen durchzuführen. Der Chef tröstet sie mit der gedankenlosen Floskel, beide würden zuverlässig »zu Weihnachten … zurück sein, damit [sie] ›die Festtage im Kreise der Familie verbringen‹« könnten (S. 41). Keiner der beiden hat so etwas wie eine Familie oder auch nur eine persönliche, intime Beziehung; beide sind, jeder für sich, vollkommen allein, beide leiden darunter auch sehr, aber nicht der berichtende Beobachter, sondern nur der Kollege gibt dieses Leid zu. Das macht ihn zum Objekt eines Manipulationsversuchs, der als »Ausweitung der Kampfzone« wirklich außerordentlich genau bezeichnet ist – die Mittel der beruflichen Konkurrenz, des Leistungsvergleichs und der täglich zu ölenden Distinktionsmaschine werden ins Persönliche übertragen und sexuell exekutiert. Zunächst versuchen sich beide Kollegen in professioneller, halbprivater Indifferenz; sie erledigen ihre Jobs – dieses »Wischtuchleben« (S. 124) – im beruflich üblichen Amalgam aus Lustlosigkeit und Beflissenheit. Abends ziehen sie durch die Kneipen, und der Kollege versucht – gewissermaßen noch rechtzeitig vor dem Fest – eine Frau für sich zu interessieren. Weil er sich für unattraktiv und ungeschickt hält (zwei Probleme, die es nur als alkoholverstärkte self-fulfilling prophecies gibt), gelingt ihm das nicht; um ihn aber an der Resignation zu hindern, beginnt der Beobachter mit seinem Versuchsaufbau. Am späten Heiligabend soll eine Tanzbar besucht werden; das erwartete neuerliche Scheitern bei der Kontaktaufnahme (sie »warf ihm einen verächtlichen Blick zu«, »das Urteil war unwiderruflich«, S. 121) soll durch einen Mord kompensiert werden, in dem der ewig Zurückgewiesene an den Glücklichen Rache nimmt (»Noch heute Abend sollst du die Laufbahn des Mörders betreten; glaub mir, mein Freund, das ist die einzige Chance, die dir bleibt«, S. 127). Die beiden Ingenieure fahren also einem Paar hinterher, der Beobachter übergibt ein Messer, wartet dann am Auto, während der gedemütigte Kollege sich daran macht, das in den Dünen verschwundene Paar für die Zurückweisung bezahlen, bluten zu lassen. To shoot the whole day down, shoot it all down; wann, wenn nicht jetzt, an Weihnachten, im Kreise der Lieben? Aber auch daran scheitert der Kollege (»›Ich habe kehrtgemacht und bin zwischen den Dünen entlanggegangen. Ich hätte sie töten können… Ich hatte keine Lust, sie zu töten; Blut ändert auch nichts‹«, S. 130), steigt ins Auto, lässt den Beobachter stehen und fährt ab. Wie sich herausstellt, rast er ungebremst in einen Lastwagen; »er starb an der Unfallstelle, kurz vor Sonnenaufgang. Der nächste Tag war arbeitsfrei, man feierte die Geburt Christi« (S. 131).

Dem Zurückbleibenden bleibt nichts als ein schales Gefühl, das er als Lebenskrise deutet; tatsächlich ist es die Orientierungslosigkeit dessen, der eine Wette auf die Ohnmacht eines anderen verloren hat. Das ganze folgende halbe Jahr verliert sich in einer psychischen Krise mit Todes- und Gewaltphantasien; er verbringt es weitgehend in einer psychiatrischen Klinik. Um Pfingsten herum, seinem Geburtstag, verlässt er die Klinik und rafft sich zu einem Ausflug zu den Eltern auf. Dramatisch erschöpft, unterbricht er die Reise, um am nächsten Tag ziellos in den Wald zu radeln. »Ich lege mich auf einer Wiese in die Sonne. Und jetzt auf einmal der Schmerz« (169), nein, genauer: gar nicht ‹auf einmal‹, sondern in geradezu abgedroschener Redundanz; immer dieselbe larmoyante Existentialität: »Alles, was Quelle der Teilnahme, der Lust, der unschuldigen Sinnesharmonie hätte sein können, ist zu einer Quelle von Unglück und Schmerz geworden« (S. 170). Alles ist Quelle – dann kann es immerhin weitergehen, und wie, wenn nicht durch Schmerz und Unglück, kann das Selbst von sich wissen? Kein alter ego mehr möglich, keine Liebe mehr, keine Sozialität, nur noch Banalität, Alleinsein ohne Surplus, »heilloses Gefühl der Trennung; … die sublime Verschmelzung wird nicht stattfinden« (S. 170).

Dieses unbehauste Individuum, jetzt ganz mit sich allein [1] – ein erbarmungsloses Panopticon seiner selbst, in sein gefühlloses Erleben eingeschweißt wie »eine Hühnerkeule unter Zellophan in einem Supermarktregal« (S. 107), seinen eigenen abschätzigen Beobachtungen genauso wie den Vulgarismen und Zynismen seiner eigenen Sprache ausgesetzt – kann tatsächlich, von nun an, nicht mehr sterben (»Jellinek: ›Sie wünschen sich, damit die Sinnfrage entfällt, die Unsterblichkeit.‹ Houellebecq: ›Ja.‹.«). »Von nun an« (S. 170) »bin ich ein Gefangener in mir selbst, … das Lebensziel ist verfehlt. Es ist zwei Uhr nachmittags.«

 

 

[1]    Diesen luziden Verweis verdanke ich Thomas Steinfeld, vgl. dessen Einleitung in ders. (Hg., 2001): Das Phänomen Houellebecq. Köln: Dumont, S. 7-26, hier S. 9.

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