„Wir sind eine Kaffeenation. Kaffee ist krisenfest und bleibt das Lieblingsgetränk der Deutschen.“ 169 Liter! Stolz verkündet Holger Preibisch, Hauptgeschäftsführer Deutscher Kaffeeverband, dass der Gesamt-Pro-Kopf-Konsum (ja, auch der Begriff für den Kaffeekonsum wird mit deutscher Bürokratie sprachlich verschönert) des deutschen Kaffeeliebhabers im Jahre 2021 noch einmal um einen Liter im Vergleich zum Vorjahr gestiegen ist. Der Kaffeedurst scheint ungebremst: 3,8 Tassen trinkt der durchschnittliche Kaffeekonsument pro Tag. Den größten Absatz verzeichnet hierbei, wie könnte es anders sein, natürlich der gute alte Filterkaffee. Mit 47% Marktanteil ist die Begeisterung der Deutschen für die 1908 von Melitta (ja, daher der Markenname des Filters) Bentz erfundene Filtertechnik ungebrochen. Und da man Traditionen nicht brechen sollte, bleibt der Kaffee des Deutschen Wachmacher. Fast die Hälfte aller Tassen Kaffee werden zum Start in den Tag getrunken. Doch damit wären wir schon beim ersten Problem. Der Kaffee des Deutschen am Morgen zeichnet sich vor allem durch seine Funktionalität und Zweckhaftigkeit aus. „Wach. Heiss. Stark“ – Das Motto des Deutschen Kaffeeverbandes ist Programm. Doch nicht nur der Geschmackssinn scheint vor lauter Filterkaffee-Funktionalität zu verkümmern. Mit der Sozialität beim Kaffee am Morgen ist es auch nicht weit hergeholt. Denn der Deutsche trinkt seinen Kaffee am liebsten im privaten Umfeld. Die deutsche Kaffekultur, sie besteht aus weißen Plastikpötten, kalenderspruchbedruckten Mottotassen und tristen Pappbechern, in denen der Kaffee mit geschmackszerstörenden Holzstäbchen allein an einem regnerischen Dezembermorgen auf dem Weg zur Arbeit verrührt wird. Nein, so kann es mit der deutschen Kaffeekultur am Morgen nicht weitergehen. Nun kann Kritik natürlich jeder. Und kulturelle Untergangsbeschwörungen sind der Schlager jedes Feuilletons, weswegen wir das mit der Kritik an dieser Stelle auch mal gut sein lassen wollen. Denn dagegen sein ist immer einfacher als dafür sein und deswegen braucht es, jawohl, endlich wieder mehr dafür als dagegen. Und deswegen wird das hier viel eher ein kurzes Plädoyer. Ein Plädoyer für eine neue Kaffeekultur am Morgen. Ab an die Bar. Klirrende Siebträger, das Zischen der Kaffeemaschine und der Duft von frisch gemahlenem Kaffee am Morgen, der sich mit den ineinander rauschenden Kurzgesprächen der Barbesucher vermischt. Am besten genießt man seinen schnellen Kaffee am Morgen nämlich nicht nur gemeinsam, sondern auch im Stehen. Dicht an dicht gedrängt am Bartresen. Die Italiener nennen das „al banco“. Al banco um 9 am Morgen! Ein, höchstens zwei Schlücke reichen aus und für eine halbe Zigarette ist auch noch Zeit. Den Preis für den caffé al banco setzt übrigens jede Kommune Italiens gesetzlich fest. In ganz Italien kostet der nicht mehr als 1,20€. Bürokraten- und Schwabenherzen, schließt euch an! Doch was würden wir jeden Morgen um 9 dazugewinnen? Ritualisierte Geselligkeit statt funktionaler Einsamkeit. Souveräne Baristas mit Berufsethos statt auf Vollautomaten drückende Bäckereiaushilfen. Zum 9-to-5 Job schaffen wir es trotzdem noch pünktlich. Und verdammt, wer würde das morgens um 9 in Herne denken? Sprezzatura!
Al banco dopo le nove. Ein Plädoyer für Geselligkeit im Stehen.
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Plädoyer für mehr Geselligkeit des Kaffeetrinkens – Und die Materialität? Kaffeebohnen, -tassen, -maschinen versammelt euch!
09:12 – Mit dem ersten Kaffee in der Hand am Fallenbrunnen sitzend, frage ich mich folgendes: Wieso ein Plädoyer für Geselligkeit schreiben, welches sich (vermeintlich) lediglich an die menschlichen Akteure wendet? Wo ist der Aufruf an die Tassen, Kaffeebohnen und maschinen, sie mögen sich doch ‚geselliger‘ versammeln?
Verwirrende Dualismen und Distinktionen: Gesellschaft und Natur, Mensch und Technik, Idee und Materialität, Ich und Es, Wissenschaftler* in und Objekt, Kaffeetrinker*innen und Tasse, Bohne, Maschine.
Spätestens nach den ersten Ausrufen der ANT sind diese Gegenüberstellungen zu überdenken; Klare Trennungspraktiken, die sich ‚an sich‘ gegenüberstehende Entitäten wie Natur und Kultur produzieren, scheinen angesichts der doch zahlreichen Vermischungspraktiken und Hybridisierungen nicht mehr plausibel.
Diese Betrachtungsweise verdeutlicht: Theoretiker* innen unterhalten sich mit ihrer Theorie, Menschen schießen mit den Pistolen und Kaffeetrinker* innen trinken mit Hilfe der Tassen, Bohnen und Maschinen. Das Trinken des Kaffees erfolgt jedoch nicht auf der Bühne einer ’stummen Materialität‘; die Bohnen, Tassen und Maschinen sind in Bewegung und ein ‚mehr‘ an Geselligkeit erfordert möglicherweise eine Unterhaltung mit der Bühne, auf welcher diese stattfinden soll.
Die Aufzählung der Tassen, Bohnen und Maschinen zeigt bereits, dass wir frühmorgens nicht nur einem Aktanten gegenüberstehen, welcher uns doch bitte die erwünschte Thermik geben solle, sondern einem Netzwerk aus verschiedenen einzelnen Aktanten (Tasse, Bohne(n), Wasser, Maschine, Strom für die Maschine, etc…), die eventuell als „Straktant“ (Prisching 2012), „strukturell-kontextualisierend“ (ebd.) bezeichnet werden können und uns in einem „Ambiente der Interkationen“ (ebd.) begegnen.
„Aber Arnold Gehlen hat etwa dabei bloß die Entlastungsfunktion gesehen; eine Kaffeetasse im Schrank ist ein praktischer Organersatz, zumal heißer Kaffee mit den Händen unangenehm zu schöpfen ist. Wer jedoch eine komplexe soziologische ANTheorie entwickeln will, der darf eben nicht alle Tassen im Schrank haben, sondern muss die Verschmelzung des Kaffeetrinkers mit seiner Tasse ins Auge fassen. Karl Marx hat sich natürlich vom Hybrid dadurch ablenken lassen, dass er nur auf die Produktivkräfte geschaut hat, auf die Kaffeemaschine. (…) Pierre Bourdieu war nur mit dem legitimen Geschmack beschäftigt, also mit der Frage Arabica versus Löskaffee.“ (Prisching 2012)
Wenn wir uns Geselligkeit beim Kaffeetrinken wünschen, wurde im vorliegenden Text, die soziale Kontextur betont: Kaffee trinken in der Bar oder Kaffee trinken im Papp-Becher auf dem Weg zur Arbeit?
Genau an dieser Stelle ist der Straktant Kaffee jedoch schon mitgedacht. Der Papp-Becher gestaltet die soziale Thermik mit, die schmuckvoll verzierte, ästhetisch angerichtete Tasse der Bar ebenso. Alleine diese Beschreibung führt das Verständnis der stummen Tasse wieder vor. Der Kaffee wird serviert, die Tasse angerichtet, die Bohnen gemahlen… Wo ist die Aktantenhaftigkeit des Kaffees?
Vielleicht ist das Straktantengeflecht besser als Kommunikationsgeflecht zu beschreiben, in welchem auch menschliche Akteure vorkommen, aber nicht ausschließlich. Die Kommunikation mit und über den Kaffee ist somit entscheidend für eine geselligere Kaffeepraktik.
Literatur:
Prisching, M. (2012). Theorie des Straktanten. Blog der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Theorie des Straktanten – SozBlog (soziologie.de)