Adventskalender 2022. Die erste Stunde: 00:01 – 01:00 Uhr.

Jeder neue Tag beginnt mitten in der Nacht

Das alte Witzwort, nach dem der Tag nur 24 Stunden hat und jeder, dem das nicht reicht, einfach noch die Nacht dazunehmen muß, nutzt trivialerweise die semantische Ungenauigkeit, die mit dem Terminus „Tag“ zum Einen eine Ganzheit meint, zum anderen nur einen Teil davon; und dieser Teil, dem die Ehre zuteil wird, für den wichtigeren gehalten zu werden, darf den anderen immer „mitmeinen“; so wie der englische man wie der italienische uomo eben nicht nur „Mann“, sondern auch „Mensch“ sein darf. Auch der Tag und die Nacht schaffen also das bekannte Genderproblem des verallgemeinerten Maskulinums, was nicht gerade dadurch erleichtert wird, daß die Frage nach einer genauen Tag-Nacht-Unterscheidung, also die Frage aus dem (gerade in Adventsandachten viel gelesenen) Buch Jesaja: „Wächter, wie lang ist noch die Nacht?“ (oder in der schöneren Übersetzung in Mendelssohns Lobgesang: „Hüter, ist die Nacht bald hin?“) auch heute noch schwer zu beantworten ist. Wie lang der „Tag“ ist, weiß hingegen jedes Kind, und jedes Kind sieht daher ein, daß die Dezember-Zeit bis Weihnachten genauso viele Tage dauern muß wie ein Tag Stunden hat. Oder ist diese Übereinstimmung zufällig, willkürlich, pure Konvention? Das wird so sein, und ist, wie alles Kontingente, „nur historisch zu erklären“ (H. Lübbe). Wie vieles am Weihnachtsfest und um es herum, scheint es ja ein Resultat eines Kompromisses aus christlich-kirchlichen Anliegen und eher weltlich-heidnischen Jahresend-Feier-Wünschen samt entsprechender konsumfördernder Countdown-Rituale darzustellen, letztlich ein Amalgam aus heterogenen kalendarischen Zeiteinteilungen, wie der rein christlich-kirchlich inspirierte sogenannte „Andere Adventskalender“ (link) zeigt, der die wirkliche Adventszeit vom 1. Adventssonntag bis zum 6. Januar („Erscheinung des Herrn“) zählt – und daher oft schon im November beginnt und folglich keine Übereinstimmung mit den üblichen realen Abreißkalender-Monatstagen im Dezember aufweist. Und so natürlich auch der schönen magischen Zahl 24 keinen götzenhaften Tribut erweist, nur weil sie so gut durch zwei, drei, vier, sechs und acht teilbar ist, was ja auch ihre Geeignetheit zur Strukturierung des Tages begründet. Das zeigt sich noch beim Ziffernblatt-Kreis einer herkömmlichen analogen Uhr, auch wenn sie vom „Tag“ wieder nur eine Hälfte zählt – es sei denn, man leistet sich den kognitiven Luxus eines solchen stark gewöhnungsbedürftigen analogen Uhr-Anzeigeformats:

 Aber auch schon die historische Urform des Adventskranzes und -kalenders, das alte Wagenrad, das der Hamburger Theologe und Sozialreformer Johann Hinrich Wichern 1839 im „Rauhen Haus“ zur Veranschaulichung der von den Kindern immer wieder nachgefragten „Zeit bis Weihnachten“ mit einer Kerze pro Tag geschmückt hatte (link), verknüpft diese Zeitdauer mit der Kreisform einer Uhr. Einen runden, 24 Stunden langen „Tag“ kann man so gut, so überschaubar, so präzise warten und überstehen wie die 24 Dezember-Tage bis Weihnachten; denn auch in dieser Wartezeit auf das Fest ist es gut, jederzeit zu wissen, „was die Stunde geschlagen hat“.
So oder ähnlich zu denkende temporale Entsprechungen und Analogiehypothesen mögen es gewesen sein, die den Spirituskreis in diesem Jahr dazu veranlaßt haben, die 24 Adventskalender-Beiträge diesmal jeweils einer Tagesstunde zu widmen. Gerade beim gemeinsamen Abwarten einer gesetzten Frist werden solche metaphorischen Substitutionen der Zeitspannenbegriffe – ein Tag „ist“ wie eine Stunde, ein Monat „fühlt sich an“ wie ein Tag oder: „tausend Jahre sind ein Tag“ (Udo Jürgens, mit dem Psalm 90,4 und dem zweiten Petrus-Brief 3,8) – der Verschiedenheit des subjektiven Erlebens von Zeit und Dauer entsprechen; die Differenzen des Zeitbewußtseins stehen aber auch für Rangunterschiede, wie denen zwischen menschlichem und göttlichen „Zeitempfinden“, zwischen den Taktungen einer individuellen Biographie und dem „langen Atem“ einer Institution oder aber zwischen objektiv gleich langen, aber bekanntlich immer viel zu kurzen glücklichen und sich schmerzvoll dehnenden unglücklichen Zeitdauern. Der hier im diesjährigen Adventskalender durchgeführten spielerischen Idee der „Gleichsetzung“ der bis Weihnachten abzuzählenden Tage mit Tages-Stunden könnte man also, diesen poetisch-literarisch-theologischen Korrespondenzen nachgehend, einen tieferen Sinn unterlegen[1] – man kann es aber auch lassen…
Interessanter ist ja vielleicht auch die uns in dieser ersten Folge der Reihe vermutlich dringender betreffende Frage, warum die allererste Stunde des Tages (?), die zwischen „Schlag 12“ und „Schlag 1“, traditionell und konventionell den Geistern, Gespenstern und sonstigen Mächten der Finsternis vorbehalten ist. So zeigt das Uhrbild des heutigen Tages (ganz oben) ein Filmstill aus dem Stummfilm Die Gespensterstunde von Urban Gad (1916); die Uhrzeit wird eingeblendet, kurz bevor Asta Nielsen zu einer gefährlichen mitternächtlichen Schloßbesichtigung aufbricht. Walter Benjamin hat im Ursprung des deutschen Trauerspiels auf die „Bindung des dramatischen Geschehens an die Nacht und insbesondere an die Mitternacht“ hingewiesen und sie mit der „verbreitete[n] Vorstellung“ begründet, „daß mit dieser Stunde die Zeit wie die Zunge einer Waage einstehe“. Die Manifestationen des Schicksals, die nicht der normalen Zeit angehören, stehen „in der Mitternacht als der Luke der Zeit, in deren Rahmen je und je das gleiche Geisterbild erscheint“[2]. Zwischen 12 und 1 steht die Zeit still, und diesen Stillstand nutzen die unzeitigen Wesen, um ihr Unwesen zu treiben. Oder anders: das ist der „Zeit-Raum“ (Benjamin), den wir ihnen zugestehen, denn das Wichtigste an der Geisterstunde ist ja, daß sie Schlag ein Uhr wieder vorbei ist; der Geist hat seine Schuldigkeit getan und darf gehen. „Die Glocke, sie donnert ein mächtiges Eins / Und unten zerschellt das Gerippe“ und so entkommt in Goethes Totentanz (1815) der freche Türmer in letzter Schrecksekunde dem ihn bis auf das Kirchdach verfolgenden Gespenst. Max Kommerell kommentiert beschwichtigend: „Auch die Dämonen unterstehen Gesetzen“.[3] Was aber, wenn wir sie selbst herbeirufen, inmitten der Nacht? Stefan Zweig weiß zu berichten:

„‚Seid gegrüßt, Dämonen!‘ Mit diesem heitern Ruf der Hybris beschwören einmal in studentisch froher Nacht Nietzsche und seine philologischen Freunde die Mächte: zur Geisterstunde schwenken sie vom Fenster aus den gefüllten Gläsern roten Wein in die schlafende Straße der Baseler Stadt hinab als Opfergabe an die Unsichtbaren. Es ist nur ein phantastischer Scherz, der mit tieferer Ahnung sein Spiel treibt: aber die Dämonen hören den Ruf und folgen dem, der sie gefordert, bis aus dem Spiel einer Nacht grandios die Tragödie eines Schicksals wird“[4]

Der einstige schaurig-schöne Gespensterglaube verkommt zwar zur spätpubertären Farce, aber für eine hyperbolisch „grandiose“ Deutung des post-romantischen Geschehens nach Mitternacht reicht es allemal. Vielleicht sollte man dann das epigonale Deuten lieber dem Interpretations-Professionalismus der Psychoanalyse überlassen. Freud beschreibt und analysiert den Fall eines jungen Manns, der zur Geisterstunde nicht irgendwelche Toten, Dämonen oder Geister erwartet, sondern einen ganz bestimmten; seine (so von Freud diagnostizierte) Zwangsneurose läßt ihn gerade „zwischen 12 und 1 Uhr nachts“ wach sein und beflissen für die Prüfung studieren: zwischendurch öffnet er dann dem verstorbenen Vater die Türe, damit dieser als Geist den nächtlichen Fleiß des (früher von ihm wohl zu Recht getadelten, jetzt aber sehr) eifrigen Studenten-Sohnemanns würdigen kann: „Nun sollte er Freude an ihm haben, wenn er als Geist wiederkam und ihn beim Studieren traf“[5]. Die wach erlebte ehemalige Geisterstunde wird zur nachgeholten demonstrativen Bewährungsprobe des (Weiter-)Lebenden, eine Sühneleistung, mit der die Schuld des Immer-Noch-Am-Lebens-Seins abgetragen wird. Nur wer auch nachts lebt – also dann, wenn die Zeit „einsteht“, ganz wörtlich „auf Null“ steht -, darf überhaupt leben. Und sei dies wahrere Leben auch eines fern der Gegenwart: immer kurz nach zwölf fällt in Woody Allens Midnight in Paris der amerikanische Drehbuchautor durch die offenstehende „Luke der Zeit“ zurück in die 20er Jahre des 19. Jahrhunderts, um den blühend lebendigen Geistern von Hemingway, Dalí, Picasso und Gertrude Stein zu begegnen. Diese Dame ist es auch, die, wie bei Freud der verstorbene Vater, seine Arbeit, seinen neuen Roman, würdigt und ihn so von seiner Real-live-Schreibhemmung befreit.

Aber man mußte ja nicht auf die Psychoanalyse warten, um zu wissen, daß eine andere, eine neue Zeit nur mitten in der Nacht beginnen kann. Christen wußten das schon immer, und erinnern gerade im Advent daran: „Mitternacht heißt diese Stunde“ singt man in dem alten Adventslied von Philipp Nicolai von 1599, das mit dem Ruf „Wachet auf“ beginnt, der von einem „Wächter sehr hoch auff der Zinnen“ erschallt, und die „klugen Jungfrauen“ (vgl. Matth 25, 1-13) beschwört, einem (wiederum ganz anderen) nächtlichen Besucher, der hier als „ihr Bräutigam“ erscheint, entgegenzugehen.[6] Die Wächter-Weckruf-Figuration dient ersichtlich zur anschaulichen Symbolisierung von zwei miteinander konfligienden allerchristlichsten Botschaften: die gute Nachricht (das „eu-angelion“) ist, daß alle gerufen sind, die schlechte, daß nicht alle hören werden – weil sie die Frohbotschaft schlicht verschlafen.

Die mitternächtlichen Schläfer könnten sich aber damit trösten, daß gerade weil sie nach zwölf in ihrem tiefsten Schlaf liegen (das galt zumindest, als man noch mit Sonnenuntergang ins Bett ging, gilt also aus ökologisch-ökonomischen Gründen bald wieder), jene Träume träumen, die am nähesten bei der Wahrheit sind. Arthur Schopenhauer, der idealistisch inspirierte Vorfreudianer der Traumanalyse, erinnert in seinem 1851 erschienen Versuch über das Geistersehn an die Horaz-Zeile „post mediam noctem […] cum somnia vera“ und erklärt damit, warum im Zeitpunkt der größten Entfernung von der Realität des Tages der Mensch erst ganz innen-bestimmt bzw. „das Gehirn schon in tiefer Ruhe und gänzlich seiner Nutrition hingegeben ist“ und daher eine „bedeutend stärkere Anregung von innen erfordert sein muß [nämlich als in den Stunden des Einschlafens oder Aufwachens]; daher es eben auch nur diese Träume sind, welche, in einzelnen […] Fällen, prophetische oder fatidike [also: das Schicksal voraussagende] Bedeutung haben“.[7] Auf mysteriöse Außeneinwirkung setzte allerdings – bei gleicher Aussage-Intention – wieder Daniel Paul Schreber, der die oft verlachte Personalunion des Seelendoktors und des eines solchen Bedürftigen am prominentesten verkörpert und Freud in beiden Erscheinungsformen viel Material geliefert hat. In den nach seiner Aussage 1900/1901 verfaßten „Nachträgen“ zu seinen Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (Freud hat seine Traumdeutung auch auf 1900 datiert) führt er den „Aberglauben von der Geisterstunde, welche den Geistern für ihren Verkehr mit Menschen ausschließlich gestattet ist und welche dieselben zwingt, mit dem Glockenschlage eins ihre Gräber wieder aufzusuchen“ auf die „richtige[…] Ahnung“ zurück,

„daß Träume nicht immer bloß von außen her unbeeinflußte Vibrationen der eigenen Nerven eines schlafenden Menschen sind, sondern daß dieselben unter Umständen allerdings auf einem Verkehr mit abgeschiedenen Seelen (einem von diesen Seelen, vorzugsweise verstorbener Angehöriger, genommenen Nervenanhang) […] beruhen. Die Stunde nach Mitternacht, als die Zeit des tiefsten Schlafes, wird dabei mit einem gewissen Recht als die für einen solchen Verkehr geeignetste Zeit betrachtet.“[8]

Aber für die Hoffnung auf mitternächtliche Wahrheiten hat das 20. Jahrhundert nur noch Hohn und Spott übrig. Egal ob schlafend oder wach, kein Dämon mag uns hören: nichts klappt mehr. „One o´clock and all is well“ kräht der intellektuell etwas eingeschränkte Wächter-Geier Nutsy (!) in Walt Disneys Robin Hood.[9] Aber es ist schon längst drei und „alles in Ordnung“ war noch nie.

 

ANMERKUNGEN

[1] Der heute praktisch unbekannte Romanist Richard Glasser hat vor 80 Jahren sehr viele frühe Belege für diese Zeiten-Entsprechungs-Rhetorik, insbesondere für die Formel von den „1000 Jahre wie ein Tag“, gesammelt: „Mi pare mill´anni. Geschichte einer Redensart“, in: Romanische Forschungen, 58, 1944, 41-113.

[2] Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt 1972, S. 145.

[3] Gedanken über Gedichte, Frankfurt 1956, S. 359. In Goethes anderer großer Geisterstunden-Ballade, der „Braut von Korinth“ (1797), wird in die Zeit nach Mitternacht nicht nur ein Liebesmahl (samt Liebesvollzug) einer Toten mit einem Lebenden, sondern auch ein grundsätzlicher Religions-Disput zwischen dem christlichen und dem antiken Götterglauben gepackt. Vgl. auch Faust II, 11593: „Die Uhr steht still – // Steht still! sie schweigt wie Mitternacht. // Der Zeiger fällt // Er fällt! es ist vollbracht.“

[4]  Stefan Zweig, Der Kampf mit dem Dämon: Hölderlin. Kleist. Nietzsche, Leipzig 1925, S. 176. Die Episode ist (ungefähr so…) durch Briefe dokumentiert, vgl. zu dieser „Dämonenweihe“ etwa die Belege bei Stephan Günzel, Geophilosophie. Nietzches philosophische Geographie, Berlin 2001, S. 111 (Anm. 13).

[5] Sigmund Freud, Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose (1909), in: ders., Zwang, Paranoia und Perversion (Studienausgabe Bd. VII), Frankfurt 1973, S. 71. Was ihm freilich dabei, wie zum Ausgleich, nächtlicherweise sonst noch so gezeigt wird, darf die/der LeserIn selbst ebd. nachlesen.

[6] Das Lied trägt im Original den Titel „Ein anders von der Stimm zu Mitternacht/und von den klugen Jungfrauwen/die ihrem himmlischen Bräutigam begegnen/Matth. 25“, vgl. das Facsimile auf https://de.wikipedia.org/wiki/Wachet_auf,_ruft_uns_die_Stimme

[7] Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena (Werke in fünf Bänden, Bd. IV), Zürich 1988, S. 236.

[8] Daniel Paul Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, nebst Nachträgen […], Leipzig 1903, hier zitiert nach https://www.projekt-gutenberg.org/schreber/nervenkr/chap026.html.

[9] Danke für den Hinweis an Maren Lehmann.

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Über Joachim Landkammer

Joachim Landkammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis der Zeppelin Universität.

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