Eine Exkursion, die zu zwei Dritteln aus Weg besteht. Der Blick aus dem Fenster, die steilste Zugstrecke Deutschlands und die Suche nach Nahrung zwischen Süßen und Kuchen.
Haben Philosophen Angst nicht anzukommen? Es scheint so.
Bis Ravensburg fahren wir 40 km/h. Wir passieren zwei gestörte Zugübergänge und ein falsch gespraytes Antifa Symbol. Auf der Anzeige leuchtet: 08.03.2000. Einige von uns sind noch nicht geboren. Fünf Stunden Anreise und fünf Stunden Abreise trennen an diesem Tag den Bodensee von Marbach, der schwäbischen Kleinstadt bei Stuttgart in der sich das Deutsche Literaturarchiv befindet. Grund dieser Exkursion, die sich vermutlich zwischenzeitlich nach Odyssee anfühlte, war vor allem Hans Blumenberg – seine Bücher, seine Zettelkästen und Notizhefte.
Wir sind verabredet, haben eine Führung durch das Archiv – womöglich Grund der Angst also nicht, nicht anzukommen, sondern zu spät. Auf der Schillerhöhe das Literaturmuseum der Moderne – ein rotbrauner Holzkubus in einer aufgesetzen weißen Hülle der Säulen – das Wort „Tempel“ drängt sich förmlich auf, und daneben, hinter Koniferen geduckt, in rohen Beton gewandet: das Literaturarchiv. Seine Bau- und Entwurfszeit von den 50er bis 70er Jahren sieht man ihm an. Ich assoziiere: Verwaltung. Krankenhaus. Schule. Innen: Teppichboden. Treppen auf und ab, keine Eingangshalle, sondern ein Schalter. Wir werden erwartet.
Das Archiv befindet sich ein Stockwerk unter dem Eingang. Es wird dunkler, nur Sammelbände, farblich sortiert und strahlend gelb, orange, grün, leuchten. Auf einem Tisch im Besprechungsraum mit Glaswänden, eher an einen Verhörraum erinnernd, liegen bereits eine Auswahl von Büchern, einige Zettelkästen und Hefte von Hans Blumenberg.
Täglich verzeichnete Blumenberg
seine Lektüre in einem Schulheft. Alle blättern.
Pensum: enorm hoch. Blumenberg notiert zwei oder drei Bücher am Tag, nichts
liest er doppelt. Außer Sein und Zeit, das las er dreimal. Manchmal schleichen
sich Filme ein. So schnell lesen kann nicht möglich sein, oder wenn, wie soll
es möglich sein? Er kann nur querlesen, so erscheint es. Blumenberg sucht nach passenden Zitaten, Stellen
und Themen, die ihn interessiert haben. Er schreibt keine Exzerpte, aber er sammelt
aber auch nicht nur Zitate ohne Kontext. Was er sich markiert findet dann Eingang
in den Zettelkasten. Hierin blättert man und entdeckt Neues, Ungesuchtes.
Blättern, ein Zugang, der vielleicht beim zunehmenden Googeln verschwindet, ein
Entdecken, dass hierbei vielleicht unmöglich ist – doch vielleicht bieten
alternative Strukturen des Internets, etwa Blogs, hier Möglichkeiten.
Blumenberg sortiert nach Themen und Autoren, schreibt selbst und lässt abtippen. Wir finden, stoßen auf überfließende Süße (Liebesbriefe von Paul Valéry an Jean Voilier), Zeitungsartikel, teilweise dicht beschriebene Karten, sauber und unsauber abgetippte – eine Auswahl der Sammlung. Es wird viel von der Schreibweise und dem Stil von Blumenbergs Texten verständlich, wenn man diesen Kasten sieht. Das Denken, dass einem beim Lesen mäandernd erscheint, blättert vielleicht in Wirklichkeit nur, von einem Zettel zum nächsten. Dass bei diesen kurzen Zitaten, zuweilen auch ausufernden eigenen Essays, vielleicht auch eine etwas eigenwillige, weil auf das eigene Denken zugeschnittene Lesart möglich ist, steht als Frage und Kritik im Raum.
Wie viele der Anwesenden wohl in diesem Moment mit dem Gedanken gespielt haben, sich einen Zettelkasten anzulegen? Es scheint produktiv zu sein.
Wir blättern in Büchern Blumenbergs. In der Philosophie des Geldes, mit der er sich in „Geld oder Leben“ beschäftigt. Er unterstreicht mit Lineal, mit rot oder blau und Tinte. Nicht nebenbei, im Bett, im wackelnden Auto, sondern gerade, mit einem Lineal zur Hand. Neben manchen Zitaten ist ein kleines Symbol, das anzeigt, dass es im Zettelkasten vermerkt ist. Es gibt eine Übersichtsliste über alle Zettel. Auf den ersten Seiten zahllose durchgestrichene Zitate, fein säuberlich, jedes einzeln, mit Lineal. Vernichtete Zettel. Das Manuskript zu „Geld oder Leben“: abgetippt, wenige Korrekturen, sauber.
Die Mitarbeiterin des Archives fragt nach den Fachrichtungen der Anwesenden. Soziologie, sagt ML und die Frau nickt verständig. „Und Sie?“ „Ich habe mal Philosophie studiert“, erwidert JL und die Frau lacht, das sei ihr klar gewesen. Woran man das erkenne? „Am mangelnden Zugriff auf die Lebenswelt“, sagt sie lachend. Vermutlich fühlt sich nicht nur JL ertappt, es ist schließlich ein philosophischer Lesekreis auf Wanderfahrt.
Wir verlassen den Betonbau, rascheln durchs Herbstlaub zwischen Platanen Richtung Tempel: ins Literaturmuseum der Moderne. Zunächst in die Wechselausstellung: „Hegel und seine Freunde – eine WG Ausstellung“. Als universitäre Gruppe ist eine WG Ausstellung natürlich ein Muss. „So nah an unserer Lebensrealität?“, fragen wir uns, an die letzten Abende mit Rotwein am Küchentisch zurückdenkend.
Auch hier läuft man durch Knistern – zerknülltes Papier auf dem Boden, Schwarzlicht. An die Wand sind sich selbst schreibende Signaturen geworfen, der Einfluss der parallelen Wechselausstellung „Hands on! Schreiben lernen, Poesie machen“ ist sichtbar.
Man kann Zahlreiches einstecken, so viel, dass am Eingang Papiertüten zum Mitnehmen sind: Mit einem dynamischen „Hegel“ bedruckt und bereit mit Material befüllt zu werden, dass man eigentlich erst nach dem Besuch zuhause richtig lesen kann, sonst müsste man wohl Stunden im Museum verbringen. Es gibt übergroße Postkarten zum Mitnehmen, Gedichte der Konkreten Poesie, Stolzenbergs Notizkarte mit dem Titel „Selbstanwendung: Misstrauen“ sowie der in der Dämmerung leuchtende Schriftzug: „…daß diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist.“, ein Zitat von Hegel. Und Fragen: Viele Fragen, ganz nach der, die sich die Ausstellung selber stellt: Wie kommen wir ans Denken?
An den Wänden steht ziemlich wenig, nur im Eingangsbereich findet man einen kurzen Text. Der Besucher kommt hier also nicht ans Denken, indem die Ausstellung ihm dies genau erklärt. Schon beim Betreten wird man in ein, zumindest im Museumskontext, ungewohntes Umfeld geworfen. Aufforderungen, ein Selfie zu machen, dass dann auch direkt ausgedruckt wird. Eigentlich auf Stühlen, über dem „wir“ und „du“ steht, was jedoch auch erst im Nachhinein aufgehen kann – wie bei uns. Im nächsten Raum befindet sich ein Billardtisch und ein Klavier, beides wird sofort bespielt. Dass an den Wänden unter anderem Dialektik, Natur, Idee und Geist in großen Schriftzügen zum Nachdenken auffordern sollen, kann man auch schnell übersehen (oder nicht beachten).
In der Mitte des nächsten Raumes zum Kreis versammelte Overhead Projektoren mit bereitgelegten Ansammlungen von bunten Plastikbruchstücken, Fäden, Folien, Stiften zum Zeichnen – man arrangiert seine eigene Projektion an die Wand, wenn man denn will. Mit so viel Inhalt, wie man will. Man wird aufgefordert aus Glaslinsen Muster zu legen, an einem Tisch betitelt mit „Glasperlenspiel“. „Hands on“ in der WG, räubert man durch den Raum, packt ein, legt neu, hört zu, wie Hegel auf schwäbisch gelesen wird, erfindet neue Schimpfworte und ist mitten drin, in dieser Ansammlung von so unterschiedlichen Denkern: Hegel, Hölderlin, und Schelling zu denen sich zum Beispiel Butler, Adorno, Simmel, Goethe, Mörike, Arendt, Gadamer, Hesse und Kafka gesellen. Nicht belehrend, sondern unterhaltend, im Sinne von Gedanken einstreuend, versammeln sie sich im Raum.
An die Wechselausstellung anschließend:
Die Dauerausstellung. In spiegelnden Glasvitrinen liegen Manuskripte, Briefe,
der Parteieintritt von Martin Heidegger genauso wie kindlich anmutende
Bleistiftzeichnungen Hesses von seinem „Demian“, aus zahlreichen einzelnen
Seiten zusammengeklebte Romanentwürfe ganzer Welten neben Schreibfedern. Zu
sehen: Die Schichten des Schreibens, des literarischen Schaffens in
Spiegelungen, Lichtbrechungen, Widerscheinen.
Jeder scheint allein durch dieses Kabinett zu laufen, hingezogen zu unterschiedlichen
Artefakten, andere Stellen genauer untersuchend. Endlos ausdehnen könnte man
diesen Raum, neue Zettel aus dem Archiv in gläserne Hüllen legen und
betrachten.
Doch wir hatten einen Zug zu erwischen. Einen Bus nicht zu verpassen. Anzukommen. Trotz mangelndem Zugriff auf die Lebenswelt.