Theorie(-) und Ideologiekritik

I

Der Begriff der „Weltanschauung“ oder Welt-Theorie (theoria = Anschauung) ist ein in sich widersprüchlicher Begriff. Aus der ungünstigen Kombination mit einem Weltbegriffs, d.h. eines differenzlosen Allbegriffs, neigen derartige ‚Theorien‘ dazu, ihre eigene Kontingenz und Positionalität mit einer zur Alternativlosigkeit stilisierten Differenzlosigkeit der Welt selbst zu verwechseln oder ganz zu vergessen.

Mir scheint jedoch, das Problem liegt tiefer (oder flacher, kommt darauf an). Noch vor der Differenzlosigkeit ist es eine gewisse Positivität, die in Theorien unterschiedlicher Couleur als Erstarrung wirkt. Es ist wohl kaum nur überspitzt in einer im Kern positiven (im Kern positiv ist fast redundant und muss als sich wechselseitig erhellend gelesen werden: einen Kern ‚besitzend‘ = positiv(istisch)) Anschauung bereits darin die Begrenzung ihrer Beobachtung zu erkennen.

II

Man muss unterscheiden zwischen solchen, die für heutige Reflexionsmöglichkeiten relativ triviale Tatsachenbehauptungen in ihr Zentrum stellen, Grundannahme wie Gartenzwerge: irgendwo aufgestellt, einen rechten Grund kann man nicht finden, man erträgt sie nur, wenn sie nicht zu sehr sichtbar werden und selbst dann kaum.

Davon können solche unterschieden werden, die sich ‚nur‘ noch um ein konstruktives Prinzip herum bilden. Sie scheinen oft sehr viel flexibler, zeigen jedoch immer noch die erstarrte Blindheit, die Möglichkeit ihrer eigenen Unmöglichkeit nicht mitdenken zu können.

Schliesslich können wir Theorien beobachten, die mit einem solchen Begriff schon kaum noch zu beschreiben sind. Sie erst sind es, die dem Scheitern aller Möglichkeiten einen Platz einräumen. „Aufrührerisch ist nur der Geist, der die Pflicht des Existierens in Frage stellt: alle anderen, zuvorderst der Anarchist, schließen den Pakt mit der herrschenden Ordnung“ [zotpressInText item=“{HKQFMV87,124}“] Es kann kein Prinzip, schon gar keine Tatsachenbehauptung ‚im Zentrum‘ stehen. Das Zentrum bleibt leer, es ist keines, und darauf konzentriert (!) sich die Beobachtung. Eine Theorie, so scheint es mir, kann nur dann wirklich ernst und streng sein, wenn sie jederzeit riskiert, sich als Unternehmung nicht nur für sinnlos zu erklären, sondern ganz aufzugeben. Die Frage ist nur: wie? Wie vermeidet man, dass diese geforderte Selbstaufgabemöglichkeit nicht nur wieder vorgetäuscht, mit leeren Worthülsen der heroischen Selbststilisierung bloss behauptet und dadurch verhindert wird?

Die Selbstaufgabe der Theorie muss durchgeführt werden, blosses Andeuten hilft nichts; im Gegenteil. Es ist das grösste, das ultimative Risiko, das einzige theoretische Unterfangen, das es noch wert wäre, zu wagen. Und auch diese Überzeugung muss aufgegeben werden können. ((Parallelen zu buddhistischer Philosophie mag hier hineingelesen werden, kann vermutlich begründet, erklärt und ebenso bestritten, d.h. auf Differenzen hin gelesen werden. Das alles ist jedoch von geringem Interesse für uns, da diese Parallelen ebenfalls aufgegeben werden müssten und keinerlei Halt bieten werden.))

Projekt: Theorie (der) Aufgabe
Laufzeit: nicht kalkulierbar
Kosten: möglicherweise Alles
Erhoffter Ertrag: möglicherweise Nichts

III

Kehrt man zurück zur Weltanschauung und vergleichbar damit auch zu bestimmten religiösen Lehren, so kann man sehen, dass präzise die Positivität ihrer Konstruktion den Halt verspricht, der Hoffnung schafft. Es ist jedoch ein trügerischer oder mindestens strategisch verschwiegener Halt. Der Suchenden, unterwegs und nicht nur zum schlichten Ende der Reise, bietet sie halt und schon impliziert die nachdrückliche Aufforderung, zuzugreifen. Was Halt bietet, will festgehalten werden; der Preis ist das Fortkommen. Der Hafen schützt nicht vor Unwetter auf hoher See, er demotiviert die Reise (vgl. zu dieser Metaphorik auch [zotpressInText item=“{JKJNTM85}“ format=“%a%, %d%, %p%“]).

Verlagert man die Metaphorik in die Vertikale, könnte man eine Theorie, wie sie uns hier in Skizzen vorschwebt, mit den Zügen und Sprüngen eines Freikletterers vergleichen: ohne sicherndes Seil und schon zu weit, um umzukehren, ist jeder Schritt ultimativ: er setzt immer eine Letztalternative in die Möglichkeit, nämlich die Unmöglichkeit eines und-so-weiter. Jede Bewegung entscheidet über das Weiterkommen und muss immer alles riskieren. Dies meint nun nicht, dass jeder Fehler in den Tod führt, noch notwendigerweise auch nur zu schweren Verletzungen, aber jeder Zug auch der scheinbar leichteste birgt das letzte Risiko. Und wer ist noch nicht auf ebener Strecke ohne Hindernis gestolpert. „Aufrührerisch ist nur der Geist, der die Notwendigkeit des Existierens in Frage stellt“ [zotpressInText item=“{HKQFMV87,124}“].

Wenn es sich hier – und das möchte ich vorschlagen – um eine „absolute Metapher“ (nach [zotpressInText item=“{JKJNTM85}“ format=“%a%, %d%, %p%“]) handelt, so ist die Erklärung der selben nur bedingt möglich oder auch nur sinnvoll. Wenn ich nun schreibe, dass es dieses Angesicht des Todes ist, das auch der Theorie begegnen kann, dann ist schon fast alles und noch lange nicht viel darüber gesagt. Es ist der Grund des Gelächters bei Bataille [zotpressInText item=“{GZJ77JBC}“], wie ich es verstehe. Und das Lachen selbst kann Absturz wie auch Fortschritt sein. Man merkt es erst, wenn man sich endlich verschluckt hat. „Der Gedanke ist in seinem Wesen Zerstörung. Genauer: in seinem Prinzip. Man denkt, man beginnt zu denken, um Bindungen zu zerreißen, um Verwandtschaften aufzulösen, um das Gerüst des ,Wirklichen‘ zu untergraben. Erst später, wenn diese Wühlarbeit auf guten Wegen ist, faßt das Denken sich wieder und rebelliert gegen seine natürliche Bewegung.“ [zotpressInText item=“{HKQFMV87,100}“]

IV

Für den „ärgerlich positive(n) Charakter“ der abendländischen Philosophie [zotpressInText item=“{HKQFMV87,120}“] mag es unzählige Beispiele geben. Besonders scheinen mir dabei aber jene, die diese Positivität selbst zu ärgern scheint, dieser Ärger dann jedoch der selben Positivität zur Geburt verhilft.

Adornos Abscheu ((„Disgust“ im Englischen klingt treffender.)) und Verachtung gegenüber Heideggers Ontologie ist dieser reine Ärger; die Abwendung Adornos von Hegel, die Forderung, Hegel ernster zu nehmen als er sich selbst, auch hierin muss man die Zweifel an einer all zu glatten Dialektik hören; der Titel „negative Dialektik“ [zotpressInText item=“{JRKH7IQF}“] schliesslich, als hätte es das gebraucht, verrechnet jene Positivität auf der erhofften Verlust-Seite. Allein, so meine These, es ist ihm nicht gelungen. Adornos Bestreben wahre Mannigfaltigkeit als solche ernst zu nehmen, barg dabei zu jenem Zeitpunkt das ultimative Risiko, alles zu verlieren. Seine Polemik und schliesslich seine schier endlose Vorsicht nur ja keiner Ideologie durch die Hintertüre seiner Kritik Eintritt zu gestatten, sind Adornos Seil. Mit viel Spiel, aber ohne ernsthafte Gefahr. Er wagt es nicht, die Ideen in notwendiger, d.h. vernichtender Strenge zu verfolgen.

Die Kritik der pervertierten Tauschverhältnisse des Kapitalismus und die komplementäre Ideologie des Individualismus gelangt nie zur Möglichkeit, die darin schon angelegte Erschöpfungsmöglichkeit zu vermuten. Das Spiel der Waren könnte sich ausspielen. Aber Adorno scheitert an der Philosophie einer wahren Gesellschaft, weil er letztlich nicht bereit war, diese aufzugeben, weil er nicht für möglich hielt, dass sich die Individualisierung selbst auslöschen könnte, Gesellschaft damit also kaum mehr in dieser Dichotomie von Individuum und Kollektiv gedacht werden kann. Eine Philosophie der Mannigfaltigkeit muss immer den Absturz vor Augen haben.

…the pieces all scattered around!

„scattered“ – zerschmettert und verteilt – klingt nicht umsonst nach allen Abstufungen umfassende Schattierungen (von grau, inkl. Schwarz, der Unmöglichkeit zu sehen – ebenso wie ein reines, die Kameras zerstörend gleissendes Weiss).

Und wie schon Adorno so könnten auch wir Hegel kritisieren [zotpressInText item=“{JRKH7IQF},{JJSKRIFP}“]. Die Idee der Freiheit im zu sich selbst kommenden Bewusstsein zu begründen, aber noch mehr: auch Besitz und Inbesitznahme, Moral und Sittlichkeit auf das so überladene ‚Subjekt‘ (nicht im Hegelschen Sinne mehr das Subjekt seiner Theorie, also Geist (?)) zu bauen, verschleiert die Positivität der Setzung im komplexen Spiel der Dialektik nur notdürftig. Das Bewusstsein selbst, so hört man es aus jeder Zeile, ist das unersetzliche und sicher nicht leere Zentrum; ein sich selbst plausibilisierender Erklärungszusammenhang und darin simpler Arroganz nicht unähnlich.

Ein sich in Freiheit vermutender Geist kann die Entdeckung der Sicherungsleine nicht verschmerzen. Die Sicherung wird zum Strick um den eigenen Hals, das Unterfangen war von Anfang an eine Verwechselung von Freiheit und Gefangenschaft. Theorie muss alles riskieren; alles, auch die Freiheit. Darüber in Lachen auszubrechen ist kein Zeichen von Belustigung. ((Und eng verwandt mit, vielleicht der erste Schritt hin zu, einem dann grundlosen Weinen der Erkenntnis [zotpressInText item=“{HKQFMV87,119}“].))
„Der von Klarsicht zerschlagene Geist“ [zotpressInText item=“{HKQFMV87,92}“]

 

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Über Joachim Landkammer

Joachim Landkammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis der Zeppelin Universität.

Eine Antwort zu Theorie(-) und Ideologiekritik

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