Die Erinnerungen an die Hegelschen Begriffsbestimmungen aus seinem über mehrere Werke verstreuten System sind v.a. didaktisch höchst nützlich und verdienstvoll, gerade für Hegel-Anfänger, aber sie stellen die entscheidende Frage nach dem Status solcher „Definitionen“ nicht. Ich hatte das Problem schon mal angedeutet und versuche es hier ein weiteres Mal zu artikulieren. Gegeben seien folgende zwei „wissenschaftliche“ Aussagen:
(1) Die Erde ist der dritte Planet im Sonnensystem.
(2) Die Metapher ist ein Ausdruck, der statt des wörtlich Gemeinten etwas bezeichnet, das ähnlich ist. (wikipedia)
Der Unterschied ist klar: im ersten Fall wird eigentlich kein „Begriff“ definiert, sondern eine Vorstellung unserer Alltagswelt (die Erde, auf der wir leben, die wir lebensweltlich kennen und so benennen) wird in eine Wirklichkeit eingeordnet und in ihrem Sein „erklärt“. Die zweite Begriffsdefinition hingegen „schafft“ erst eine bestimmte neue Gattung von Ausdrücken, indem sie besonderen davon (denen, die „statt des wörtlich Gemeinten etwas bezeichnen…“ usw.) einem neuen, „künstlichen“ Begriff zuordnet, sie also „kennzeichnet“ und terminologisch faßbar macht. Satz (1) erklärt uns also die Welt, weil wir nun wissen, was es mit der Erde auf sich hat (und wir konnten ja bisher auch annehmen, sie sei etwas anderes, etwa das Zentrum des Universums), während Satz (2) uns nahelegen will, daß es unter unseren Ausdrücken eine besondere Gattung gibt, für die wir eine eigene Benennung brauchen: wir können diese Benennung übernehmen (wenn wir sehen wollen, was es nun mit diesen sog. „Metaphern“ auf sich hat), wir könnten es aber auch bleibenlassen; wir können „Metaphern“ auch benutzen, ohne je verstanden zu haben, daß sie in diesem terminologischen Sinn etwas Besonderes und so definierbar sind. (Während wir, wenn wir weiter auf der „Erde“ leben und meinen, wir befänden uns im Zentrum des Universums, irgendwann deutliche praktische Probleme zu gegenwärtigen hätten, etwa bei der „Raumfahrt“, usw.).
Wenn diese Unterscheidung sinnvoll ist, wäre meine Frage nun: welchen Status haben vor diesem Hintergrund solche philosophische Operationen wie die Hegelschen, die uns sagen wollen, was „Sein“, „Wirklichkeit“, „Bewußtsein“ IST. Ist das aufzufassen als eine terminologische Nomenklatur-Frage wie in (2), oder eine Erklärung unserer Welt und unserer Vorstellungen wie in (1)?
Meine Vermutung ist: Philosophen wie Hegel unterlaufen die Unterscheidung, wollen natürlich auf (1) hinaus, tun aber so, als würden sie uns mit Sätzen nach dem Typ (2) „nur“ die Aufgabe stellen, uns ihrer Terminologie anzubequemen. Da sie aber dafür meist keine Neologismen verwenden, sondern eben Begriffe der Alltagssprache („Wirklichkeit“), wird uns damit unter der Hand nicht nur eine Begriffsdefinition empfohlen, sondern es wird uns „unsere Welt erklärt“. Wenn Hegel von „Wirklichkeit“ spricht, ist das nicht nur, um uns zu sagen, was Prof. GWF Hegel darunter „versteht“ und im Rahmen seines Denksystems (seines Sprachspiels) gerne „verstanden haben möchte“, sondern was das wirklich „ist“. Er „erklärt“ uns, was wir unter Wirklichkeit (jener, die wir aus unserer Lebenswelt und Alltagssprache ja kennen, bzw. zu kennen meinten) eigentlich zu verstehen haben. Hinter terminologischen Klärungen stecken ontologische Er-klärungen.
Deswegen finde ich es etwas mißlich, wenn formuliert wird „Hegel meint“, „Hegel versteht“, „Hegel definiert“ usw., als ob es darum ginge, sein seltsames Sprachgebaren nachzuvollziehen. Es geht aber darum, seine Welterklärung zu verstehen (und sie ggf. auch als „unwahr“ oder „unpassend“ oder „fragwürdig“ oder „hoch unwahrscheinlich“ oder schlicht „falsch“ zurückzuweisen). Es geht, trotz aller möglicher terminologischer Raffinessen, immer noch auch darum sich zu fragen, ob – um den berühmtesten und fragwürdigsten Fall nochmal aufzugreifen – die „Wirklichkeit“ (so wie wir sie kennen) „vernünftig“ (so wie wir die Vernunft kennen) IST. Und mir scheint das, trotz aller möglicher hegelscher definitorischer Nachbesserungen an den Begriffen „Wirklichkeit“ und „Vernunft“ eine hochproblematische, ja schlicht falsche Aussage.
Wie weit hier die Anrufung von Spencer-Brown bringt, wage ich in wahrscheinlicher Unkenntnis der Tragweite seines Denkens kaum einzuschätzen. Meine bisherige Vermutung war, daß er Sätze nach dem Typ (1) wie nach dem Typ (2) prinzipiell dadurch vermeidet, weil er eben überhaupt nicht von Begriffen, sondern von Handlungen (Unterscheidungen) und deren Folgen spricht. Und von einer fingierten Tabula rasa, die erst durch diese Unterscheidungen Kontur gewinnt. Das macht Hegel ja nicht (Hegel ist gegen radikale Neuanfänge, siehe Vorrede zur GdPdR), sondern er geht munter weiter mit den traditionellen (und uns irgendwie ja vertrauten) Begriffen Sein, Wirklichkeit, Bewußtsein um, tut so, als ob er sie nur „neu definiert“, aber das Ansinnen seiner Philosophie besteht ja darin, uns zu erklären, was das „Sein“ wirklich IST.
(Davon nochmal zu unterscheiden wäre die Frage, wie wir Hegel „lesen“ wollen. Dann kann man seine Welterklärung vermutlich auch als konstruktivistische Begriffspoesie und literarische Imagination – wir stellen uns mal eine „Wirklichkeit“ vor, die seltsamerweise auch noch „vernünftig“ wäre – auffassen und um ihre ontologische Aussageabsicht verkürzen; Hegel als Dichter – warum nicht?).