GWFH GdPdR 7: Alles fallen lassen oder alles wollen? Hegel vs. Schopenhauer zum Selbstmord

Bevor wir dann wirklich weitergehen, um uns dem „abstrakten Recht“ (§34 ff.) zu widmen, nur noch kurz ein Beispiel, wie man Hegels idealistischen Willensbegriff auf der Basis seiner Korollarien hinterfragen könnte. Als Zusatz zu §5 wurde gestern nochmal der (leider in der Meiner-Ausgabe nicht enthaltene, aber hier zu findende) Passus zitiert, in dem H. die „reine Unbestimmtheit“ des Willens als seine „negative Freiheit“ und insofern als „einseitig“ beschreibt:

„In diesem Elemente des Willens liegt, daß ich mich von allem losmachen, alle Zwecke aufgeben, von allem abstrahieren kann. Der Mensch allein kann alles fallen lassen, auch sein Leben: er kann einen Selbstmord begehen; […] Der Mensch ist das reine Denken seiner selbst, und nur denkend ist der Mensch diese Kraft, sich Allgemeinheit zu geben, das heißt alle Besonderheit, alle Bestimmtheit zu verlöschen. Diese negative Freiheit oder diese Freiheit des Verstandes ist einseitig, aber dies Einseitige enthält immer eine wesentliche Bestimmung in sich: es ist daher nicht wegzuwerfen, aber der Mangel des Verstandes ist, daß er eine einseitige Bestimmung zur einzigen und höchsten erhebt.“

Ein nur flüchtiger Seitenblick auf H.s (damals so viel weniger erfolgreichen) Zeitgenossen Schopenhauer genügt, um an der Alternativkonzeption des Selbsttods zu sehen, wie anders menschliches Wollen gedacht werden kann: für Schopenhauer ist in der Tat der Selbstmord keinesfalls ein Akt, in dem der Mensch „alles fallen läßt“ und nur noch negativ und allgemein wird, sondern: „Der Selbstmörder will das Leben und ist bloß mit den Bedingungen unzufrieden, unter denen es ihm geworden. Daher gibt er keineswegs den Willen zum Leben auf, sondern bloß das Leben, indem er die einzelne Erscheinung zerstört“. Birnbacher kommentiert das so: „Der Selbstmord ist eine Form von Lebensbejahung, nicht von Lebensverneinung. […] Der Wille zum Leben, von dem der Selbstmörder getrieben ist, ist nicht der Wille zu seinem, zu diesem Leben, sondern der Wille zum Leben überhaupt, zur Lebendigkeit, zu dem, was ihm in seinem Leben unerreichbar geworden zu sein scheint“. Nochmal Schopenhauer: „Der Wille bejaht sich hier eben durch die Aufhebung seiner Erscheinung, weil er sich anders nicht mehr bejahen kann“.

Hegel könnte man also entgegenhalten, daß selbst diese radikale selbstzerstörerische „Negativität“ des Willens („alles fallen lassen“) nicht sinnvoll als solche zu beschreiben ist, sondern daß der menschliche Wille immer alles nur „bejahen“ kann: er ist immer „positiv“, jede Zerstörung ist immer auch Kreation, Schaffung von Neuem (oder zumindest von „Platz“ dafür, vgl. Schumpeter usw.). Selbst ein suizidal-selbstzerstörerischer Wille „bejaht“ das Leben (in der Form des mir leider unmöglichen „guten Lebens“). Gegen Hegel könnte also gesagt werden: der Wille KANN gar nicht „negativ“ oder „einseitig“ sein; es besteht keinerlei Grund, ihn durch eine künstliche selbstreflexive Schleife aus dieser behaupteten „Einseitigkeit“ heraus und wieder normativ in sich selbst zurückzuführen und die „wahre Freiheit“ erst in der „Selbstbestimmung“ zu sehen (wo wir doch spätestens seit Freud wissen, daß gerade die sog. „Selbstbestimmung“ die neurotischsten Formen von Selbsteinschränkung, Selbstkasteiung, Selbstfrustration annehmen kann). Die höchste Freiheit ist, sich selbst nicht zu wollen, es gibt keine höhere Freiheit als den Selbstmord.

Das sei nur als mögliches radikal anderes, mich bis auf Widerruf viel eher überzeugendes „Nebengleis“ gegen Hegels Konzeption gestellt.

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Über Joachim Landkammer

Joachim Landkammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis der Zeppelin Universität.

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