Kleine Kant-Schriften I: Die anti-heroische Geschichtsphilosophie der Aufklärung

Joachim Landkammer

Es scheint durchaus sinnvoll, Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht VOR der Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (beide aus dem Jahr 1784) zu lesen, wie im Spirituskreis geschehen. Denn auch die Aufklärungsschrift hat deutliche Bezüge zum optimistischen Fortschrittsglauben von Kants Geschichtsphilosophie. Dafür sprechen zum Einen konkrete textliche Bezüge. So kehren zum Beispiel die aristotelischen Entelechie-Metaphern des „Sich-Auswickelns“ im zweiten Text wörtlich wieder: der Mensch muß sich „aus der Unmündigkeit heraus […] wickeln“ (54) und: „die Natur“ wird irgendwann „den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt“ (61) haben (Hervorh. i.O.). Daß es „die Natur“ des Menschen ist, die auf die Dauer eine freie bürgerliche Gesellschaft unaufhaltsam hervorbringen wird, war auch der Grundtenor der Idee zu einer allgemeinen Geschichte. Das kehrt hier wieder in der (von heutiger Warte sehr optimistischen) Überzeugung, daß es einem „Zeitalter“ nicht gelingen wird, das „Weiterschreiten“ der Aufklärung zu verhindern: „Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht“ (57). Und solche „Verbrechen gegen die Natur“, müssen wir offenbar hinzufügen, sind zwar abstrakt vorstellbar, aber nicht als reale geschichtliche Möglichkeit.

Vor diesem geschichtsphilosophischen Hintergrund nimmt sich der pathetische und zu Tode zitierte Aufruf zum „Mut“, der das berühmte Eingangstor des Essays bildet, etwas bemüht und übertrieben aus. In der Tat würde man sagen, daß es hinter diesem glorreichen Appell, der über dem Eintrittsportal prangt, durchaus prosaischer und – wenn man so will – realistischer zugeht. Die Zurücknahme des freien, radikalen und „mutigen“ Denkens auf die Sphäre des gesellschaftlich freigestellten Gelehrtendiskurses, die komplementär zur von Kant recht autoritätsgläubig verteidigten Gehorsamspflicht in allen „weltlichen“ Belangen gehört, teilt dem aufklärerischen Denken ein stark eingeschränktes Gebiet ohne unmittelbare politische Wirkungskraft zu. Der Preis der Freiheit ist der Verzicht auf direkte Beeinflussung gesellschaftlicher Zustände; der „öffentliche Gebrauch der Vernunft“ darf sich – das ist eben das kennzeichnende Merkmal des „Zeitalters der Aufklärung“, in dem wir uns befinden – in einem „Räsonnieren“ der Theorie austoben, während die Nicht-Gelehrten (oder die Gelehrten in ihren nicht-intellektuellen Rollen und Aufgaben) die bestehenden Praxis-Verhältnisse weitgehend stabil halten. Das bedeutet keine rigide Trennung von Theorie- und Praxis-Sphäre, aber für eine Abschätzung von Ausmaß und Art der „Einflußnahme“, der gesellschaftsverändernden Kraft von Theorie wird man verwiesen auf den geschichtsphilosophischen Optimismus einer unpersönlichen, unmerklichen Verbreitung, Ausdehnung und Durchdringung der außertheoretischen Realität durch eine als welt- und menschheitsgeschichtlich unaufhaltbar gedachte Vernunft. Deren Mühlen mahlen langsam, und Durchsetzung einer Veränderung „auch nur binnen der Lebensdauer eines Menschen“ (58) zu versuchen, „vernichtet“ und überspringt die zur wirklichen Verbesserung notwendige Dauer, ist daher nicht nur „fruchtlos“, sondern „schlechterdings unerlaubt“ (ebd.). Sie ist, könnte man sagen, „übermütig“, nicht „mutig“.

„Daher kann ein Publikum nur langsam zur Aufklärung gelangen“ (54): statt einer „Revolution“ muß die „wahre Reform der Denkungsart“ angestrebt werden, die z.B. nicht einfach „neue Vorurteile“ gegen die alten austauscht (ebd.). Insofern scheint im Kontext der Geschichtsphilosophie und der durch sie legitimierten politischen Praxis der Revolutions-Begriff in der Tat eine deutlich negative Konnotation zu haben, die sie in den theoretischen Schriften Kants (z.B. Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft) nicht hat (darauf hat Christina Weiss zu Recht hingewiesen) – vielleicht aber auch einfach deswegen nicht hat, weil „Revolution“ in Kants Erkenntnistheorie wörtlich als „Umdrehung“ gemeint ist, und im Zusammenhang mit der Metapher der „kopernikanischen Wende“ steht, die das Ich zum ruhenden heliozentrischen Pol macht, während die Wirklichkeit sich um es „herumdreht“, also „revolutioniert“.

Die gelehrte Intervention, zu der ein „mutig Denkender“ im Sinn des Appell-Spruchs aufgefordert ist, beweist ihren Mut nur in dem (jede allzu menschliche „Faulheit und Trägheit“ überwindenden) Aufwand, der darin besteht, sich auf eine vernünftig räsonnierende Weise (nicht an die jeweilige politische Gruppe der Akteure, sondern) an das „eigentliche Publikum, nämlich [die] Welt“ zu richten und dort „in seiner eigenen Person“ (und nicht als bestimmter Rollenträger) zu sprechen (57). Die Betonung in dem Poesiealbenspruch liegt nämlich nicht auf „Mut“ oder „Verstand“, sondern auf dem „EIGENEN“: der Mut liegt in dem hochriskanten Wagnis, sich als Einzelner einer ganzen „Welt“ auszusetzen und die jeweils eigene Theorie, den jeweils eigenen Text an universalen, allgemeingültigen Maßstäben prüfen zu lassen. Diese Prüfung beurteilt nicht unmittelbar die Realitäts- und Praxistauglichkeit, die „Umsetzbarkeit“ und politische „Wünschbarkeit“ dieses individuellen „Vorschlags“ (56), sondern seine im Kontext einer ideal-utopischen Weltbürgergesellschaft evaluierte, abstrakte und „gelehrte“ Vernünftigkeit.

Für das Alltagsleben „unterhalb“ dieser hohen weltgeschichtlichen Sphäre des freien Gedankenaustauschs gilt hingegen die pragmatische und „privatgebräuchliche“ Vermutung, daß die bestehenden Verhältnisse „so schlecht“ gar nicht sind: „weil es doch nicht ganz unmöglich ist, daß darin Wahrheit verborgen läge“ (56). So wie Kant in seiner praktischen Philosophie die Religion trotz aller Metaphysik-Kritik stehen läßt, weil sie der Vernunft ja zumindest nicht widerspricht, so wird insgesamt die bürgerliche Welt als eine akzeptiert, die insofern „ganz ok“ ist, daß sie nicht von vornherein und unrevidierbar unvernünftig ist. Man kann sich mit ihr und den „Aufträgen“ (vgl. 57) und den entfremdeten Rollen, die man in ihr hat, durchaus arrangieren – solange eben jene „heiligen Rechte der Menschheit“ (58) auf eine freilich in eine andere Sphäre und eine als gesellschaftlich realisierte in weiter Zukunft liegende Zeit verschobene „Aufklärung“ nicht angetastet werden. Die Balance zwischen der „Freiheit des Geistes des Volks“ und der „bürgerlichen [also: politischen] Freiheit“ ist in der Tat heikel und „paradox“, wie Kant am Ende sagt: wenn wir es mit der ersten übertreiben, wird mit dem Chaos, den das provozieren würde, auch diese Freiheit selbst unmöglich; wenn wir sie hingegen durch ein Regime der „öffentlichen Ruhe“ und der obrigkeitsstaatlichen Ordnung unterbauen, hat der Geist den „Raum, sich nach allem seinen Vermögen auszubreiten“ (61).

Marx‘ (u.a.) These, daß die deutsche Philosophie die „Revolution“ in die Texte und Theorien verlegt und in der Realität unterlassen hat, erklärt sich also dadurch, daß beides gleichzeitig eben nicht zu haben ist: der bürgerliche Quietismus ist zwingende Voraussetzung für mutiges revolutionäres Denken – das dann aber in der Frage der Veränderbarkeit und des „wahren“ Fortschritts eben nicht auf „Revolution“, sondern auf „Reform“ setzen muß.

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Über Joachim Landkammer

Joachim Landkammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis der Zeppelin Universität.

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