Anschlussüberlegungen zum Workshop „Kunst und Gewalt“ der Arbeitskreise „Soziologie der Künste“ und „Gewalt als Problem soziologischer Theorie“6. und 7. Februar 2020, Universität Bielefeld
In funktional differenzierten Gesellschaften delegitimieren Zuschreibungen von Gewalt ein Verhalten ebenso wie die Person, der es zugeschrieben wird. Wer gewalttätig wird, kann nicht „im Recht“ sein (es sei denn, sie oder er handelt in der Rolle einer oder eines Exekutiven des Rechts selbst). Der Delegitimierung lässt sich (vorläufig) über diese Rolle (Monopolisierung von Gewalt beim Staat), der Personalisierung neben dem Verweis auf die Rolle auch über den Verweis auf eine Struktur („strukturelle Gewalt“) entkommen. Der Zuschreibung selbst lässt sich – das versuchen die folgenden Überlegungen unter Bezugnahme auf einige der Vorträge und Diskussionen des Workshops zu zeigen – mit dem Hinweis darauf entgehen, das interpretierte Verhalten sei „Kunst“. Die Dokumentation oder Darstellung von Gewalt wird damit, so die Vermutung, als Verantwortungsbereich eines Systems begriffen, der die Gewalt vermeintlich sichtbar und erlebbar machen kann, ohne sie zu reproduzieren. Als Aufforderung zur Beobachtung dieser Vermeidung habe ich die Ausschreibung zum Workshop „Kunst und Gewalt“, der am 6./7. Februar an der Universität Bielefeld stattfand, und dann auch den Großteil der dort stattfinden Vorträge, verstanden (und zumindest ein Indiz dafür, dass das kein Missverständnis war, könnte sein, dass die Ausschreibung des Workshops mit dem Verweis darauf beginnt, es ginge um „Gewaltdarstellungen“ und „Inszenierung […] von Gewalthandlungen“ (Hervorhebungen AS), also mit der Skepsis, ob es überhaupt um Gewalt geht).
Anhand einer präzisen Analyse des Films The Act of Killing beschreibt Lotta Mayer (Wuppertal) wie durch das Ineinanderweben (1) eines Versuchs einer Dokumentation eines historischen Ereignisses, (2) eines Films im Film, der von den Tätern gedreht wurde, und (3) der Dokumentation der Herstellung dieses Films im Film zum einen Darstellungen von Vorstellung und von Imagination von Gewalt beobachtbar wurden, zum anderen während der Fiktionalisierung einer vergangenen Gewaltanwendung erneut Gewalt ausgeübt wurde.
So wird erstens reale historische Gewalt thematisiert, verbalisiert und reflektiert, und zwar einerseits in den Erzählungen der Täter selbst und andererseits in den Fragen und Erzählungen Dritter […] . Zweitens wird diese reale historische Gewalt durch das (wiederum durch Motive aus der US-Cineastik geprägte) reenactment in Wort und Bild fiktionalisiert. Drittens läßt sich darüber diskutieren, inwiefern ebendieses reenactment […] in ein Handeln umschlägt, das […] als reale Gewalt bezeichnet werden kann.
Mayer beschreibt dann das Verhältnis von Gewaltdarstellung und ihrer Beobachtung und damit auch das Verhältnis von Gewaltausübung und ihrer Beobachtung mit Blick auf die Sinnzuschreibungen der Handelnden und ihrer Beobachterïnnen. Sie reflektiert die „Rollendynamik, die mit beeinflusst wird davon, dass live mitgedreht wird“ und beschreibt:
Die Intention des Tötens und die Motive und Rechtfertigungen dafür [sind] keine individuellen, sondern [entstehen] in der Interaktion der Täter [und eben ihrer Beobachterïnnen, Anm. AS] miteinander – angestoßen von, aber nicht determiniert durch Autorität, Hierarchie und Organisation, denn bei dem Gesamt-Täterkollektiv handelte es sich eben nicht um die staatliche Armee, sondern um relativ spontan […] gebildete, lokale Gruppierungen.
Dabei wird beobachtbar, wie Gewalterwartungen und -zuschreibungen sowohl der Beobachterïnnen von Gewalt wie auch der Täterïnnen erneut mit Gewalt begegnet wird. Für die Kunst stellt sich damit nicht nur die Frage, inwieweit die Darstellung oder Dokumentation von Gewalt (neue) Gewalt nach sich ziehen kann anstatt ihr etwas entgegenzusetzen, es wird auch beobachtbar, dass mit der Interpretation eines Verhaltens als „Gewalt“ ein drastischer Ausschluss von möglichen Anschlusskommunikationen einhergeht, der (neue) Gewalt wahrscheinlicher macht.
Daran schließen am Folgetag Überlegungen von Christa Karpenstein-Eßbach (Mannheim) mit Blick auf die unterschiedlichen Entstehens- und Rezeptionsweisen verschiedener Kunstformen an. Karpenstein-Eßbach untersucht, unter welchen Umständen die Dokumentation oder Darstellung von Gewalt neue Gewalt nach sich ziehen kann, beobachtet einen „beutegierigen Charakter“ der Photographie und vermutet, das Entstehen von Gewalt als Reaktion auf ein Publikum hänge nicht nur von der Beobachtung selbst, sondern möglicherweise auch von der Art und Form der Darstellung und Beobachtung ab: Mit Blick auf die „Handlungsakkordanz des optischen Sinnes“, der sie die „Ausdrucksakkordanz des akustischen Sinnes“ gegenüberstellt, plädiert sie für die Paragone als kunstsoziologisches Terrain, um beobachten zu können, wie es mit der Beschreibung vom Kunst im Roman gelingen kann, sich „von der Aktionsbindung, die sich der Sehsinn und die Kriegsgewalt teilen“ zu distanzieren.
Diese kritischen Beobachtungen der künstlerischen Dokumentation und Verarbeitung von historischer Gewalt ergänzte Gerhard Panzer (Dresden) mit dem Versuch, Gewalt nicht nur inhaltlich als Inspirationsquelle für Kunst zu beschreiben, sondern sie darüber hinaus als innere Praxis in Form einer „ekstatischen Überschreitung einer Ordnung“ zu verstehen, in der „erfahrene Gewalt […] als Teil eines Ausdrucksaktes“ aufgefasst und dafür provoziert wird. Panzer unterscheidet dafür einen „dienenden“ von einem „subjektiven“ Inspirationsbegriff und vermutet: „Umso mehr von Inspiration (von außen) auf Kreativität (von innen) verlagert wird, umso relevanter wird der Körper.“ Exemplarisch untersucht er diese Vermutung anhand der Ausstellung ANTIDORON. Die Sammlung des Athener Nationalen Museums für Zeitgenössische Kunst (EMST) bei der documenta 14 in Kassel. Kunst, die von Gewalt inspiriert wird, so Panzer, soll dabei Gewalt inspirieren und damit zu „inspirierender Gewalt“ machen, die erlauben soll, die Gewalt zu „konterkarieren und reflektierbar zu machen“.
Es lässt sich dann zum einen vermuten, dass sobald etwas als „Gewalt“ beschrieben wird, es nicht nur als potenziell berichtenswert oder eben inspirierend beobachtet wird, sondern dass für die Kunst eine Art Imperativ der Darstellung und Inszenierung entsteht: Die Künste werden verstanden als das System, in dem Gewalterfahrungen nicht nur beschreibend zugänglich, sondern darüber hinaus erlebbar gemacht werden können. Und es lässt sich zum anderen vermuten, dass der möglichen Kritik an einer dadurch provozierten (Re)Produktion von Gewalt mit dem für die Künste symptomatischen Verweis auf Erlebnisbereitschaft statt auf Handlungsbereitschaft begegnet wird: Nicht nur Ereignisse historischer Gewalt dienen der Inspiration, sondern auch das Erleben von Gewalt selbst, deren Hinnehmen und Provozieren dann als Professionalität verstanden wird. Gewalt wird in der Herstellung und Darstellung von Kunst zum Happening, das Künstlerïnnen wie Publikum erleben können. Dabei wird das Vorher und Nachher einer Gewalthandlung beobachtbar; es stellt sich die Frage nach der Information und Intention von Gewalt und die nach der Möglichkeit ihres (Miss)Verstehens. Das birgt die Möglichkeit eines Vermeidens von (Anschluss)Gewalt, nicht-gewalttätige Anschlusskommunikationen werden wahrscheinlicher. Es birgt aber auch die Gefahr, dass auf kein Ereignis, das „in der Kunst“ (also nicht nur auf der Bühne, sondern auch bei deren Entstehung) stattfindet, so reagiert werden kann, dass es als Gewalt ernstgenommen werden kann – und nicht als etwas, was so gewollt, vielleicht sogar so provoziert wurde.