Gleich zweifach beginnt die gedruckte Ausgabe des als Wuhan Diary veröffentlichten Tagebuchs der chinesischen Autorin Fang Fang mit der 14: 14 im Gesundheitswesen Beschäftigte hätten sich bis zum 20. Januar bereits mit dem neuartigen Coronavirus infiziert, und auf 14 Tage schätze man die Inkubationszeit des Virus, informiert die Autorin auf der ersten Doppelseite der englischsprachigen Übersetzung[1]. Fang hat ihrem während der Quarantäne von Wuhan täglich in Form von Blogbeiträgen erschienenen Dispatch für den Druck eine Einleitung vorangestellt; die erste 14 darin verweist auf den Schock der Erkenntnis der Übertragbarkeit von Mensch zu Mensch, die zweite 14, dann auch „two weeks“, auf die unaufgeregte, vielleicht auch erst beruhigende Praxis der persönlichen Kontaktnachverfolgung, die einer Einschätzung des Risikos der eigenen Ansteckung dienen soll: „Once I learned that the approximate incubation period for this virus was around 14 days, I started to calmly make a list of whom I had been in contact with over those previous two weeks to see if there was any risk that I might have been infected.“[2]
Die Maßnahme der Quarantäne hält, im Gegensatz zur Isolation, eine Infektion nur für möglich; sie dient als klar umgrenzter Zeitraum zur (meist nicht nur: Selbst)Beobachtung an einem klar umgrenzten Ort zum Ausschluss dieser Möglichkeit. Als Maßnahme im Umgang mit infektiösen oder für infektiös gehaltenen Krankheiten, so beobachtet Paola Frati, stellt sie historisch eine Zäsur dar und löst im Spätmittelalter die Abschottung ab: Die Zirkulation von Menschen und Gütern, die für die Ursache der Verbreitung einer Krankheit gehalten wird, soll nicht beendet werden, sondern nur zeitlich und räumlich so unterbrochen, dass sie weiter möglich ist[3]. Die Stadt – hier: Dubrovnik-Ragusa – schützt sich also zum einen nicht, indem sie sich schließt, sondern, indem sie sich erst verzögert öffnet; Quarantänen setzen zum anderen auch das (ggf. immer wieder neue) Bestimmen zeitlicher und räumlicher Grenzen voraus, außerhalb derer etwas auch in ihrem Inneren nur Potentielles auf keinen Fall (mehr) möglich ist. Dass die dazugehörigen (Be)Rechnungen nicht nur deshalb regelmäßig scheitern, weil sie ohne die Parasiten gemacht werden, die konstitutiver Teil des Netzwerks sind, oder weil auf beiden Seiten der gezogenen Grenzen durch die Grenze neue, andere Rechnungen attraktiv werden, mit denen nicht gerechnet wurde, ist nicht nur ein historisches Phänomen. Fast immer gilt für Quarantänen auch, dass der Zeitpunkt der Festlegung sowohl immer schon zu spät kommt, und trotzdem einer ist, an dem meist (noch) gar nicht gewusst wird, welche zeitlichen und räumlichen Grenzen die Möglichkeit tatsächlich ausschließen würden. Quarantänen lassen sich, anders gesagt, vielleicht als Form eines Umgangs mit Nichtwissen diskutieren, die von Formen von Vernetzung abhängig ist, für die Abbrüche, Unterbrechungen und Verzögerungen konstitutiv sind, und von Formen von Unterbrechungen, die nicht ohne Vernetzung zu haben und aufrecht zu erhalten sind.
Die erste überlieferte Quarantäne wurde im Venedig des 14. Jahrhunderts zunächst auf 30 und erst später auf die namensgebenden 40 Tage (quarantenaria) festgelegt[4]; Anlass für die Dauer waren nicht wissenschaftliche Erkenntnisse oder bisherige Erfahrungen mit der Pest, deren Ausbreitung man verhindern wollte, sondern, so vermutet George Rosen mit Verweis auf J. F. K. Hecker, die Bedeutung, die man der Zahl 40 beim Übergang von akuten zu chronischen Krankheiten zuschrieb, sowie die besondere biblische Bedeutung der 40[5]. Für die Grenzen der Quarantäne kommt es zum Zeitpunkt ihrer Verordnung mehr auf Erzählungen und Fiktionen an denn auf Wissen. Auch die heute als Quarantänen gezogenen Grenzen beruhen nicht nur auf imaginierten Inkubationszeiten, Übertragungswegen und Risikogruppen und vergangenen Erfahrungen und Erzählungen, sie sind auch darauf angewiesen, dass diese falsifiziert werden, um diese korrigieren zu können; generieren also in Form eines Annäherungsphänomens Erkenntnisse, die bestenfalls zu spät, schlechtestenfalls bereits überholt sind. Dass Tagebücher, Chroniken oder Berichte aus Pandemien und Quarantänen immer auch fiktive Dokumente sind, wäre dann kein Problem dieses Genres, sondern notwendige Form[6]. Gleichzeitig ist die Einhaltung der Regeln zumindest teilweise davon abhängig, dass den Informationen, obwohl sie sich ständig ändern, geglaubt wird; der Versuch, die kürzest möglichen räumlichen und zeitlichen Grenzen zu finden, steht also im Widerspruch zwischen dem Interesse an vertrauenswürdiger (erwartbarer, beständiger, sich auf Wahrheit berufender) Kommunikation und den Entstehungsbedingungen und dem Geltungsanspruch immer neuer Erkenntnisse. Quarantänen sind quasi Prognoseprobleme, die die Bedingung ihrer funktionierenden Umsetzung – Vertrauen – ständig selbst verhindern – zum einen, weil „no glory in prevention“ liegt, zum anderen, weil das, was angemessen gewesen wäre, sich immer erst nachträglich zeigt.
Auch für die gegenwärtige Situation lassen sich Beispiele für die Rudimente, die dieser Widerstreit produziert, schnell finden, und wahrscheinlich müsste die 14 – der längst die 10, die 7 und die 5 zur Seite gestellt wurden – als eines davon diskutiert werden. Interessanter ist aber wahrscheinlich die Suche nach der oder einer Form, die die neuen Erkenntnisse erst erlaubt und in der Vernetzung durch Unterbrechung und Unterbrechung durch Vernetzung möglich sein müsste. Einiges spricht dafür, das Schiff (und dann: was noch?) als solche Form zu verstehen. Schiffe verbinden nicht nur (Fest)Länder und Inseln über Meere hinweg, sie können innerhalb dieser Verbindung selbst auch Knotenpunkte sein. Für mit dem Schiff angereiste Fremde dienen in den bereits erwähnten ersten Schilderungen von Quarantänen in Venedig und Dubrovnik-Ragusa nicht nur vorgelagerte Inseln, sondern auch die Schiffe selbst als Quarantänelager. Als (zumindest zeitweise, aber wahrscheinlich eben: die meiste Zeit) hermetisch isolierte Einheiten ähneln sie nicht nur selbst der Form der Insel, zu der die Städte und Staaten angesichts infektiöser Krankheiten selbst finden wollen; die Metapher des Staats als Schiff wird bspw. bei Fang auch mehrfach bemüht[7]. Sie lassen sich darüber hinaus eben auch vom Ufer aus hilflos beobachten, wenn sie in Seenot geraten, können also Metapher für eine Situation mit einem außen vorbleibenden, ohnmächtigen Zuschauer angesichts einer live und vor Publikum sich ereignenden Katastrophe sein[8] – in Camus‘ Pest bis hin zur Metapher der Ohnmacht angesichts eines an der Pest sterbenden menschlichen Körpers[9].
[1] Fang, F. (2020). Wuhan Diary. Bentang Pustaka.
[2] Ebd., Introduction
[3] Frati P. (2000). Quarantine, trade and health policies in Ragusa-Dubrovnik until the age of George Armmenius-Baglivi. Medicina nei secoli, 12(1), 103–127.
[4] Rosen, G. (2015). A history of public health. Johns Hopkins University Press, Kapitel 3.
[5] Zitiert nach ebd., 82
[6] Nur auffällig ist eben, dass Camus‘ Pest von der chronique zum récit wurde und Fangs Wuhan Diary in der englischsprachigen Übersetzung immer wieder unentschieden zwischen diary, dispatch und chronicle benannt wird.
[7] Vgl. Fang (2020), 32; 232
[8] Vgl. ausführlich zur Metapher des Schiffbruchs mit Zuschauer Blumenberg, H. (1997). Schiffbruch mit Zuschauer. Suhrkamp Verlag.
[9] „Der Gewittersturm, der diesen Körper in heftigen, krampfartigen Zuckungen schüttelte, erleuchtete ihn mit immer selteneren Blitzen, und auf dem Grunde dieses Sturms wurde Tarrou langsam abgetrieben. Rieux hatte nur noch eine nunmehr leblose Masse vor sich, aus der das Lächeln verschwunden war. Diese menschliche Gestalt, die ihm so nahegestanden, war jetzt von Schwerthieben durchbohrt, von einem übermenschlichen Übel verbrannt, von allen Haßwinden des Himmels verkrümmt und versank vor seinen Augen in den Fluten der Pest, und er vermochte nichts gegen diesen Schiffbruch. Er mußte am Ufer bleiben und mit leeren Händen und zerrissenem Herzen zusehen; wiederum stand er diesem Verhängnis hilflos und ohne Waffen gegenüber.“ (Camus. A. (1997). Die Pest. Rowohlt, 239.)