TWA ND 8

Eine Diskussion entzündete sich an der Frage, ob Adornos kritische Kennzeichnung des (bürgerlichen) Rechtssystems als eines, in dem „das formale Äquivalenzprinzip zu Norm“ geworden ist, und „alle […] über denselben Leisten [schlägt]“ (304) nicht nur eine Verkürzung, sondern auch eine grobe Fehleinschätzung bzw. Mißachtung der Errungenschaft von formaler Gleichheit vor dem Gesetz darstellt; nur diese Idee würde ja Privilegien, Sonderrechte, Status-bezogene Ungerechtigkeit verhindern. Ich tendiere hingegen dazu, Adornos prinzipiellen Vorbehalt zu verteidigen, aus folgenden Gründen:
Adornos Irritation zielt in diesem Absatz zunächst auf einen seltsamen Widerspruch in Hegel, der immerhin in der Vorrede zu den „Grundlinien“, die danach zitiert werden, noch zugegeben hatte, daß das Individuum die Form des Gesetzes als feindselig, als „todter, kalter Buchstabe und als eine Fessel“ (ebd.) empfindet; damit ist zugestanden, daß es zu einer „Versöhnung“ (hier zwischen individuellem Gewissen und Recht) nicht kommen kann, obwohl Hegel genau das proklamiert (305). Liberales Spätbürgertum wird natürlich nicht mehr naiv von „Versöhnung“ sprechen wollen, trotzdem schreitet es mit genauso idealistischem Enthusiasmus über die verletzten individuellen Gewissensvorbehalte hinweg, wenn nur gesichert ist, daß formal „Recht“ gesprochen wurde. Daß bis heute fast jedes Gerichtsurteil, ja schon fast jedes Gesetz, aus bestimmter außerjuridischer (also: freier) Perspektive ein schreiendes „Unrecht“ setzt und produziert und mit keinem vernünftigen, selbstdenkenden Gewissen vereinbar ist, ist eine stark plausibilisierbare Aussage und hat nichts mit einem Wunsch nach Rückkehr zu Privilegen-Unrechtssprechung zu tun. Das läßt sich ja auch daran ablesen, daß in das Rechtssystem überall Ausnahmen und Korrekturmöglichkeiten zu seinem „abstrakten Formalismus“ eingebaut sind – quasi als korrigierendes „schlechtes Gewissen“ gegenüber der eigenen permanenten Ungerechtigkeitsproduktion. Denn fast nirgendwo wird ein Gesetz schlechthin streng formal und abstrakt angewandt, überall werden etwa „mildernde Umstände“ eingerechnet, „persönliche Entscheidungsmaßstäbe“ (des jeweiligen „Richters“) werden plötzlich hochrelevant, der bessere/teurere Verteidiger/Ankläger schafft „bessere“ Ergebnisse, überall gibt es Berufungsrechte, usw. Das Recht mißtraut also ständig sich selbst, seinem eigenen so hoch gehaltenen Formalismus. Auch für das mit dem angeblich „gleichen Leisten für alle“ gilt: nichts wird so heiß gegessen, wie es formal gekocht wird. Nur daß das natürlich nicht zu einer prinzipiellen Infragestellung des Systems führen darf (wie sie eine philosophische Reflexion aber daraus gerade folgern muß!): denn am Ende muß natürlich das Formal-Rechtliche immer triumphieren, egal, welcher Unsinn damit in die Welt gesetzt wird (fiat iustitia, pereat mundus). Diese behäbige, bürgerliche, selbstzufriedene und selbstgerechte Haltung des Bürgertums, die meint, wenn „Recht“ gesprochen wurde, sei auch Recht „geschaffen“ worden, weil irgendjemand Recht „erhalten“ habe, grundsätzlich zu hinterfragen und als „irrationale Rationalität“ (304) zu brandmarken: das bleibt für mich an dieser Stelle ein schwer zu leugnendes Verdienst Adornos.

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Über Joachim Landkammer

Joachim Landkammer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis der Zeppelin Universität.

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