Nachtrag zur gestern gestarteten Diskussion zu Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Vorrede (Zitate und Seitenzahlen nach der Meiner-Ausgabe 1995)
Gegen den an sich attraktiven Vorschlag, eine „unkonventionelle“ Hegel-Lektüre anzugehen, die nicht wieder das Klischée des konservativen, dem preussischen Staat philosophisch verbrämte pflichtschuldige Reverenz erweisenden Staatsphilosophen reproduziert, und diese „profundere“ Lektüre auf dem Fundament der in Hegels Gesamtwerk, insbes. der Wissenschaft der Logik ausgearbeiteten abstrakten Begrifflichkeit aufzubauen, spricht trotzdem Einiges. Zunächst das hier von Hegel selbst in Anspruch genommene Motto: Hic Rhodus, hic saltus. Hier ist der Text, hier lesen wir gerade. Was immer sonst auch woanders stehen mag, Hegels „Grundlinien“-Text muß auch in der Lage sein, für sich zu stehen (und zu „tanzen“…). Was Hegel in der Vorrede selbst beschwört, ist ja „nur“ der „logische Geist“, den er in der WdL „ausführlich entwickelt“ hat: und „von dieser Seite“ will er den vorliegenden Text „gefaßt und beurteilt“ wissen (4). Nirgendwo steht hier: „was ich unter dem Begriff ‚Wirklichkeit‘ verstehe, habe ich in der WdL, S. 275-290, dargestellt“, sondern nur: ich gehe hier „logisch“ vor; es ist eher ein Hinweis auf eine Methode, nicht auf einzelne anderswo geklärte Begrifflichkeit. Intertextualität und Systemdenken in allen Ehren, aber es darf nicht dazu führen, uns am Verstehen interessierten LeserInnen der GdPdR ständig den Boden unter den Füßen wegzuziehen, weil angeblich jedes zweite Wörtchen wie Stöckchen auf Hölzchen vom vorliegenden Text wegführt in die undurchdringliche Tiefe eines nur von eingeweihten Experten überschau- und auslotbaren Begriffs-Universums (wir kennen das Verfahren aus der Anmaßung priesterlicher Text-Exegese, die sich gegen die „einfachen“ Lektüreweisen der Bibel durch den „ungebildeten Pöbel“ wehrt: „nein, im NT steht nur vordergründig etwas von Eigentums- und Machtverzicht, das muß man vor dem Hintergrund der und der und der Textstelle des AT ganz anders interpretieren“, usw. usw.). Ich würde daher, bei allem Eingeständis der Notwendigkeit von sog. Hintergrund-Wissen, prinzipiell für eine textimmanente, den common sense und die naheliegenden Begriffskonnotationen nicht aus den Augen verlierende Lektüre der GdPdR plädieren (lasse mich aber natürlich gern auch über alle sonstigen, über den Text hinausführenden begrifflichen Verzweigungen und Verknüpfungen belehren).
Mit diesem Ansatz fällt es mir schwer, den Eindruck „wegzuinterpretieren“, daß H. hier eine polemisch unterfütterte, anti-subjektivistische und anti-normative Position vertritt, die bedenklich nah bei einer quietistischen, all-toleranten und die bestehenden Verhältnisse als „beste aller Welten“ verherrlichenden Haltung liegt. Darauf zumindest muß die Delegitimierung und Diskreditierung jeglicher „kritisch distanzierten“ Einstellung zu den politischen Verhältnissen hinauslaufen (die als seichter Emotions-Subjektivismus und irrationale „Hass“-Propaganda denunziert wird). Mir scheint deutlich zu sein, daß die angebliche Äquivalenz von „Wirklichkeit“ und „Vernünftigkeit“ letztendlich nur durch eine pseudo-theologische Substanzontologie zu rechtfertigen ist; nicht zufällig ist kurz vor dem bekannten Zitat („was vernünftig ist, das ist wirklich“ usw., S. 14) von Plato die Rede gewesen, dessen „Republik“ H. ja attestiert, kein „leeres Ideal“, sondern „die Natur der griechischen Sittlichkeit“ dargestellt zu haben. Hegels Plato-Korrektur besteht dann „nur“ darin, sein „aus der Höhe“ kommendes, „äußeres“ Prinzip (sc. „die Idee“) auf den Boden der „Wirklichkeit“ herunterzuholen und mit der „freien unendlichen Persönlichkeit“ (die aber natürlich – natürlich! – nicht die empirisch individuelle Person mit ihren subjektiven Bedürfnissen sein darf) zu versöhnen. H. re-aktualisiert also (nach Kant!) einen neu-platonischen Essentialismus, verurteilt wie Plato gegnerische Positionen als spät-sophistisch (vgl. S. 11), partikularistisch und atheistisch, und empfiehlt der Philosophie als „Wissenschaft“ eine quasi-religiöse Versenkung in „die Sache selbst“, die weit entfernt von allen „zufälligen“ empirischen Unzulänglichkeiten deren intrinsische „Vernünftigkeit“ an den Tag bringen soll. Wenn H. als Ziel philosophischer Arbeit das „Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen, nicht das Aufstellen eines Jenseitigen“ (14) erklärt, und die Aufgabe, „in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen“ (15), dann werden hier Begriffe von „Wirklichkeit“ und „Gegenwart“ implementiert, von denen ich mir noch nicht vorstellen kann, wie sie unter Bezugnahme auf andere, „tiefere“ Definitionen so interpretiert können, daß diese Vorrede NICHT auf eine Vergötzung des Bestehenden und Real-Existierenden als solchen hinausläuft. In der Tat würde ich, wenn denn schon andere Werke von H. ausschlaggebend für die Interpretation des vorliegenden Texts sein sollen, auf H.s Ausführungen zum ontologischen Gottesbeweis verweisen, wo er (gegen Kant) nachzuweisen versucht, daß dem „Begriff“ Realität, Wirklichkeit und Sein zukommt („Der Begriff hat so das Sein an ihm selbst, er ist selbst dies, seine Einseitigkeit aufzuheben; es ist bloße Meinung, wenn man das Sein vom Begriff entfernt zu haben glaubt.“). Dort übrigens auch das schöne Zitat: „Denn auch die Philosophie hat keinen anderen Gegenstand als Gott und ist so wesentlich rationelle Theologie und als im Dienste der Wahrheit fortdauernder Gottesdienst“.